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06.–09.02.2004: André Gorz an Stefan Meretz

6. – 9.II.2004

Lieber Stefan,

Dein Beitrag in Widerspruch 4539 ist ein Volltreffer. Die „Arbeit der Zuspitzung“ hat einen Text ergeben, der alles wesentliche klar mit wenigen Worten vermittelt. Der hat dir sicher viel „Arbeit“ gekostet. Gerade durch seine Kürze und stilistische Eleganz muss dein Beitrag mehr Erkenntnis bewirken als die langen Artikeln, deren Verfasser auf ihre gesammelte Schriften verweisen.

[Randbemerkung: Von hier ab beziehe ich mich auf deinen Brief vom 30.11.]

Hier treffe ich (treffen wir) auf die Grenzen der „vergesellschafteten Form überindividueller Prozesse“. Schriften erreichen eine Wirksamkeit, wenn sich die Leser durch die vom Schreibenden an sich selbst geleisteten „Arbeit“ angesprochen fühlen und sie nachvollziehen. Dazu wird ein(e) Leser(in) umso mehr bewegt, wenn das Unsagbare, das das Moment des Schreibens ist, gefühlsmäßig miterlebt wird. Hier rede ich wieder von Literatur: von der Kunst, das auszudrücken, was jeden von uns daran hindert – und schützt – in seiner gesellschaftlichen und vergesellschafteten Existenz gänzlich aufzugehen, und dadurch dem Leser eine Distanz zu verschaffen zu dem, was er ist (oder zu sein glauben möchte). Franz Schandl hat dazu einen wunderbaren kurzen Schlussparagraphen (§20) zu einem langen Text in krisis (Nr. 24, wenn ich nicht irre) geschrieben.40

Wissen und Denken ist halt nicht alles. Sich besinnen, in Frage stellen, einfühlen können, muss man letztlich immer allein; und das Bewusstsein, dass man der Einsamkeit nie ganz entgehen kann und Kommunikation immer auch unvollendet und vom Scheitern bedroht ist, schützt vor dem „tierischen Ernst“ der Erfolgs- und Ruhmsüchtigen.

Wie du siehst, bin ich noch immer nicht überzeugt davon, dass sich Literatur, Poesie und Philosophie (die beides enthalten muss) in Netzwerken vergesellschaften lassen. Die vorbereitende Arbeit kann wohl dort stattfinden, die literarische Ausarbeitung nicht. Aber vielleicht bin ich hier antiquiert und ist meine Auffassung von Literatur nicht mehr gültig. (?)

Warum bin ich so ganz sicher, dass du selbst in deinem gesellschaftlichen (oder vergesellschafteten) Sein nicht aufzugehen wünschst und dir an der Distanz, die du zu dir selbst behältst, viel liegt? Weil sich das in deinem ersten Brief bereits ausgedrückt hat. Du hasst Charaktermasken, Rollen, Eitelkeit. I too. Das kommt auch schon zum Ausdruck in deinem Wunsch „nicht nur die Wissens-Produkte selbst sondern … auch den kompletten Prozess hinzu einem Wissens-Produkt darzustellen“. Ja. Mein erstes Projekt war der Versuch, den „kompletten Prozess“ darzustellen, der dazu geführt hat, dass ich so wurde, wie ich war, fragwürdig und selbstwiderruflich.41

Nun zurück zu unserer Wert-Debatte. Bücher sind Waren, ja, als stoffliche Produkte. Als solche haben sie einen Tauschwert. Aber, um es mit Gabriel Tarde/Lazzarato zu sagen, ihr Geldwert ist von ihrem „Wahrheitswert“ grundverschieden und hat überhaupt kein Verhältnis zu ihm. Der „Wahrheitswert“, sowie der ästhetische Wert eines Kunstwerks, ist untauschbar, unteilbar, unbesitzbar, unverbrauchbar. Er liegt jenseits oder außerhalb der Wertbeziehungen, die in der „Warengesellschaft“ herrschen, außerhalb der Marx’schen Werttheorie.(1) Was Tarde „valeur intrinsèque“ nannte, kann man mit „Eigenwert“ übersetzen: weder Tausch- noch Gebrauchswert. Denn von Wahrheit, Schönheit usw. macht man keinen Gebrauch.

(Dass es für Eigenwerte einen (z.B. Kunst-) Markt gibt, auf dem u.a. Kunstwerke einen modisch und spekulativ bestimmten Geldwert erhalten, ist noch keine Vergeldlichung der Eigenwerte. Im Gegenteil, diese werden nicht als solche, ihrer selbst willen, von Käufern (an)erkannt, sondern von den Bill Gates und Gettys als Prestige-Objekte und Geldanlagen gesammelt.)

Deine von S.2 §4 bis S.3 §2 Ausführungen kann ich nachvollziehen. Ganz einverstanden. Die „Informationsrente“ (3, §3) von der du sprichst ist m.E. eine Monopolrente, die nämlich aus der die Information verknappende private Aneignung (Patentierung) von formalisierbarem Wissen entsteht. Das Gleiche gilt für Markenwaren, die dank ihrem Logo veredelt und einzigartig gelten (sollen). Der geringe (Arbeits-) Wert der Ware wird durch ihre Firmenveredelung verdeckt: Die Markenware gilt als mit markenlosen identischen Waren als unvergleichbar.

Ich habe mit den Marx’schen Krämerrechnungen zum Arbeitswert und Mehrwert lange Schwierigkeiten gehabt und mir dann die Sache genauer angeschaut. Kam zu folgendem Schluss: Wert und Wertgröße haben ihren Ursprung in der Arbeitskraft = im Wert der für die Reproduktion nötigen Waren. Mehrwert = das Quantum von Arbeit(szeit), welches die für die Reproduktion der verausgabten Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit übersteigt, und folglich ein Mehrprodukt erzeugt, das eine gewisse Fraktion von neuer Arbeitskraft unterhalten kann.(2) Allein so – in dem der Wert der Arbeitskraft als Maßstab der Wertgröße gewonnen wird – gehen die Marx’schen Berechnungen auf.

Es gibt in der politischen Ökonomie keine Werte an sich. Wert ist immer relativ – drückt das Verhältnis einer Ware zu den anderen aus, ist Tauschwert. Das findet man auch in Postone, der bemerkt, dass Marx die Schranken der Arbeitswertlehre von Ricardo nach seiner Lektüre von Bailey durchbrach, der als erster Wert als den Ausdruck der Weise erkannte, in der eine Ware sich zu allen anderen bezieht. Vgl. diesbezüglich Das Kapital I, Kap. 1, III, Die Warenform (ich übersetze aus dem Französischen): „Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Werte der Waren kann sich nur in den Beziehungen der einen mit der anderen ausdrücken. Der Wert von Tuch kann sich nur in einer anderen Ware ausdrücken, d.h. als relativer.“42 Die Realisierbarkeit des Werts hängt von der Tauschbarkeit der Ware ab, in der er „kristallisiert“ ist. Das Gleiche gilt für die Ware Arbeitskraft. Nicht realisierbarer Wert, wie du bemerkst, ist gleich Nullwert.

Bei O. Negt fand ich mit Entzücken folgendes Kant-Zitat: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ … „einen absoluten inneren Wert“43 Hier haben wir wieder die „valeur intrinsèque“. Und die Grundlagen einer Kritik der warenförmigen Arbeit.

Über das „Auseinanderfallen“ (die „Kluft“) von Reichtum und Wert, Reichtums- und Wertschöpfung gibt es in Postones Buch mehrere bedeutende Ausführungen. Dieses Thema beschäftigt jetzt eine wachsende Zahl von „Ökonomisten“, von Amartya Sen44 bis Dominique Méda45, Patrick Viveret46, mir, den Autoren des Human Development Reports der UNO. Es befand sich schon vor 30 Jahren in Negris 10 Vorlesungen über die Grundrisse (erschienen als Marx jenseits von Marx), die Postone hätte zitieren können (ja müssen), denn die tendenzielle Antiquiertheit der Wertform, die Aufhebung des Wertes als Aufhebung der politischen Ökonomie, des Kapitals, der „Arbeit“, alles das befindet sich schon in den letzten zwei Vorlesungen Ns. Aber du hast Recht: Negri ist kein Theoretiker (im Sinne von Kurz z.B.), er ist ein Spinozist, verwirft Dialektik und denkt axiomatisch. Nichts ist bei ihm begründet, aufgewiesen, veranschaulicht, die Behauptungen kommen zuerst, Fakten, wenn überhaupt, nachher. Er ist ein autoritärer intellektueller Anführer, hat eine Art Schule gegründet und seine Anhänger in der ganzen Welt sind ihm ergeben. Wenn er, wie kürzlich, seinen Schülern gute und schlechte Noten erteilt, wird mir bang. Seine Hervorhebung der „Selbstverwertung“ ging auch mir anfänglich gegen den Strich. Dann verstand ich schließlich, dass es hier um ein Spiel mit einem doppeldeutigen Begriff geht. „Autovalorisation“, „self-valorisation“ bedeutet zuerst einmal „Selbstwertung“ und ist auch die Übersetzung von „Selbstverwertung“. Doppeldeutige und unpräzise Begriffe in Umlauf zu setzen, mit denen man dann „Schule macht“, gehört zu den hegemonialen Ansprüchen der Negristen. Man darf sie aber nicht ignorieren. Ich habe von ihnen einiges gelernt und übernommen, und auch kritisch ausgewertet.

Nun zum „Kriterium der Messbarkeit“ (deine S. 4 unten). Die kapitalistische Ökonomie ist als „Kalkülisierung“ der gesellschaftlichen (Waren)Verhältnisse auf die Welt gekommen. Alles muss berechenbar, mathematisierbar, quantifizierbar, in abstrakten Formeln, Gleichungen denkbar gemacht werden. Warenaustausch, Kommerz brauchen einen einheitlichen Maßstab für die Messung der Äquivalenzverhältnisse, zur Bestimmung der Gleichwertigkeit (Äquivalenzverhältnisse) verschiedener Mengen verschiedenwertiger Waren. Der einheitliche Maßstab, der die Wertgrößen misst, ist letzten Endes immer der (Geld)wert. Eine Ware ohne messbare Wertgröße ist keine wirkliche Ware. Allein die Messbarkeit des Wertes von Arbeitskraft erlaubt die Berechnung der abgeleisteten Mehrarbeit und des geschöpften Mehrwerts.

Die Krise der Messbarkeit untergräbt das epistemische Fundament des Kapitalismus. Der Wert der Waren ist nicht mehr berechenbar wenn die für ihre Produktion verausgabte Arbeitskraft nicht mehr messbar ist. Und das ist sie eben nicht, da „Wissensarbeit“, lebendiges Wissen zu heterogen, qualitativ komplex, konkret ist, um in Zeiteinheiten gemessen zu werden. In allen wirtschaftlichen Sektoren gewinnt die Tendenz die Oberhand, den (Tausch) Wert der (materiellen oder immateriellen) Produkte vorzubestimmen und die Produktion und Arbeit an Preisvorgaben zu orientieren, die für die Arbeitenden vorgegebene Ziele sind, die sie zu erfüllen haben. Arbeitszeit wird zur abhängigen Variable. Der nicht mehr berechenbare Tauschwert zeigt die Tendenz an, sich von Äquivalenzverhältnissen zu emanzipieren und subjektive Präferenzen widerzuspiegeln (Gebrauchswert, symbolischer, sozialer, modischer, Raritätswert). Die Schlüsselkategorien der politischen Ökonomie verlieren ihre Geltung. Eine andere Ökonomie zeichnet sich hinter der kapitalistischen ab, in der die Schöpfung von Reichtum sich von der Verwertungslogik befreit, in der die verrechenbaren, messbaren, verwertbaren Dimensionen der gesellschaftlichen Tätigkeit nicht mehr die sinnlich erfahrbaren, qualitativen Dimensionen und Beziehungen als „wertlos“ disqualifizieren. Im Beitrag für die O. Negt Festschrift habe ich das bisher am besten formuliert (s. Beilage).

Zum Fragenkomplex, den du S. 5/6 aufwirfst fand ich einen Artikel (in der Revue du Mauss, no 21) über Umsonst-Läden47, von denen es jetzt in Frankreich (und in Hamburg) einige gibt, und andererseits ein interessante These über „nachhaltige Landwirtschaft“. Gerade die landwirtschaftliche Produktion scheint mir nicht informational verdrängbar (außer man ernährt sich ausschließlich mit bio-tech industriellen Produkten, was technisch möglich wäre, aber die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit und die Entfaltung und Bildung der Sinne ganz beseitigen würde. Mit der Cyborg-Ideologie, die auch bei den Negristen sehr beliebt ist, habe ich mich noch nicht versöhnt). Die nachhaltigen Landwirtschaftsgemeinschaften, so die These, die hauptsächlich in Britannien gut organisiert sind, haben ein Rotationsprinzip eingeführt, das es ihren Mitgliedern erlaubt, teilzeitig zu arbeiten, auch auf Ferien zu gehen, und kulturell sowie politisch tätig zu sein. Das Rotationsprinzip scheint mir schon seit langem ein Schlüssel zur Lösung des „Problems der Kontinuität und Verlässlichkeit gesellschaftlicher Infrastrukturen“ und zum Abbau der Arbeitsteilung.

Die für mich zugänglichste Schrift über ein Jenseits von Ware, Markt und Staat war Schandls „Metakritik des Tausches“. Sie beleuchtet sozusagen den Anfang – die Keimformen – vom Ende her, quasi hegelianisch, und deutet auch, zum Schluss, das böse Ende an, das im guten Ende angelegt sein könnte.

Den Teil I (und auch den Teil II) deiner „Zur Theorie des Informationskapitalismus“48 habe ich mehrere Male gelesen. Die §17 bis 20 blieben mir im Gedächtnis. Ich deute sie so: Es muss innerhalb der gesellschaftlichen Praxis Ansatzpunkte und verdrängte ungenützte Möglichkeiten geben, die zu einer immanenten Kritik leiten. Anders gesagt: es muss schon etwas da sein, – Keimformen – in dem, was ist, welches über die existierenden Verhältnisse hinausweist. Keim-

[über den §35 müssten wir länger diskutieren um zu sehen, ob wir uns einigen können. (Es stellt sich mir die Frage: Wie kann es Menschen wie Guy Debord49 geben? Anders gesagt: wie kann man zu seiner eigenen gesamtgesellschaftlichen Vermittlung bewusst auf Distanz gehen, – außer, dass das individuelle Subjekt nie mit diesem „seinen“ Sein zusammenfällt? Das sein Sein für es immer ein anderer ist?)

§43 habe ich endlich bemerkt, dass es wirklich einen Stefan Merten gibt.]

-formen, wie du sie zeigst, und auch Widersprüche, die du in den vorletzten §en analysierst. Um deine Gedanken nachvollziehen zu können, muss ich versuchen, sie zu veranschaulichen. Sonst kann ich sie schlecht selbst denken.

Lieber Stefan, das war wieder ein langer Brief. Wenn du Freunden etwas zeigen möchtest, das ich dir geschrieben habe, könnte mich das nur freuen.

Sei herzlich gegrüßt.

André.


(1) Was Marx selbst erkannt hat.

(2) Ich meine: Ein Mehrwert von z.B. 20% = 20% des Werts einer durchschnittlichen Arbeitskraft. Nur so kann ich verstehen, warum bei Marx eine Stunde Mehrarbeit den gleichen Wert schöpft wie 1 Std. notwendige Arbeit.


39 Vgl. Stefan Meretz 2003a.

40 Vgl. Franz Schandl 2001a.

41 Gorz spielt hier auf den „Verräter“ an (1980b, Original von 1958).

42 Mutmaßlich bezieht sich Gorz hier auf Kapitel 1.3 des ersten Bandes des Kapital von Marx (1983/1890) mit dem Titel „Die Wertform oder der Tauschwert“. Eine entsprechende Textstelle in der deutschen Ausgabe ist schwer zu finden. Inhaltlich kommt der Gorzschen Rückübersetzung aus der französischen Ausgabe dieses Zitat nahe: „Indem die relative Wertform einer Ware, z.B. der Leinwand, ihr Wertsein als etwas von ihrem Körper und seinen Eigenschaften durchaus Unterschiedenes ausdrückt, z.B. als Rockgleiches, deutet dieser Ausdruck selbst an, daß er ein gesellschaftliches Verhältnis verbirgt“ (S. 71).

43 Immanuel Kant (1724-1804), deutscher Philosoph, vgl. 1785.

44 Amartya Sen (*1933), indischer Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph. Auf seinen Vorschlag geht die Einführung eines jährlichen Index für menschliche Entwicklung der UN zurück.

45 Dominique Méda (*1962), französischer Philosoph und Soziologe.

46 Patrick Viveret (*1948), französischer Philosoph und globalisierungskritischer Autor.

47 Vgl. Collectif d’artistes 2003.

48 Vgl. Stefan Meretz 2003b und 2003c.

49 Guy Debord (1931-1994), französischer Autor, Filmemacher, Künstler und Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale.

Veröffentlicht in Briefe