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22.04.2004: André Gorz an Stefan Meretz

22.4.04.

Lieber Stefan,

Ich habe also ein kurzes Bekenntnis zum „Oekonux-Kommunismus“ geschrieben52, um deine Einladung nicht einfach abzuschlagen. Sie hat mich sehr gefreut. Ich habe in meinem langen Leben auch viel Blödsinn geschrieben und bin über den Grund nicht sicher, aus dem Oekonuxer trotzdem sich über meine symbolische Beteiligung freuen. Was mich in ihnen erfreut, – das habe ich Franz Schandl einmal geschrieben, – ist die Distanz die sie gegenüber ihrer Identität (vermutlich) üben. Radikale Kritik setzt immer eine gewisse Ich- oder Identitätslosigkeit voraus, d.i. zum Resultat der Sozialisierung, der man unterworfen ist.

Wenn mein „Bekenntnis“ zu lang ist, Überflüssiges oder Unpassendes enthält, dann streich es bitte weg.

In ca. 10 Tagen werde ich hoffentlich dazu kommen, auf deinen letzten Brief zu antworten. Es liegt mir viel an dieser Korrespondenz. Unsere Differenz bezüglich der Zusammenhänge des Wertbegriffs rühren höchstwahrscheinlich nicht davon her, dass du (wie du sagst) „etwas nicht verstanden“ hast, sondern ich die Werttheorie noch immer nicht richtig verarbeitet hab. Der Knoten dieser Differenz dürfte in der Frage liegen, wo (wert-, bzw. kapitalproduktive) Arbeit anfängt und wo sie aufhört, in einem System, das alle menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften zu verwerten weiß, bzw. in verwertbares und vermarktbares Humankapital zu verwandeln bemüht ist. Ob Selbsterziehungs-, Lern- und Selbstentfaltungsarbeit von der Wertsubstanz kapitalproduktiver Arbeit zehren oder selbst kapitalproduktiv („capital fixe being man himself“) sind, also zu einem großen Teil unbezahlte Mehrarbeit bedeuten, ist eine heikle Frage.(1) Wir haben sie vor einem Jahr – nein, vor 6 Monaten – angeschnitten.

Wir haben aber noch andere Themen vor uns.

Mit recht herzlichen Grüssen

Dein André.

PS. Vernetzte kommunale high-tech Selbstversorgungskooperativen: etwas ähnliches haben die Schweden vor 20 Jahren angefangen, dann abgebrochen.

PPS S. 540-549 geht es im Postone um „wertfreie“ Ökonomie! Geld nur Verteilungsmittel aufgrund politischer Preise.

„Geleitbrief“(ist das einer?)

An der Ausrichtung und Aktivität eures Kreises begeistert mich ganz besonders, dass es keinen Unterschied gibt zwischen eurem Ziel und eurer Praxis. Die gesellschaftlichen Beziehungen, die ihr miteinander pflegt, scheinen frei zu sein von den vorherrschenden Formen von Machtwillen, Besserwisserei, Eitelkeit. Mit einigen von euch habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Freude und Lust zum Geben und Annehmen ansteckend und befreiend wirken. Ihr seid die Gruppierung, der zuzugehören ich wirklich Lust hätte. Leider bin ich ein alter klapperiger Mann, der sich nur aus der Ferne für euer Unterfangen begeistern kann.

Dieses Unterfangen hat in meinen Augen folgende Bedeutung: Leute, deren Kompetenzen das Kapital absolut braucht, erbringen auf höchstem technischen Niveau den Beweis, dass die für die Produktion von Wissen adäquateste und effektivste Produktionsweise den kapitalistischen Produktionsverhältnissen in allen Punkten widerspricht. Sie zeigt die praktischen Vorteile gesellschaftlicher Verhältnisse jenseits von Arbeit, Ware und Wert; die praktisch erfahrbare Möglichkeit derartiger Verhältnisse; die unerträgliche Beschränkung, die der Verwertungszwang der Entfaltung des menschlichen Potentials aufzwingt; und schließlich die Möglichkeit, die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse auf einem für den Kapitalismus strategisch wichtigen Gebiet zu stören und zu destabilisieren.

Die Frage stellt sich hier ganz konkret: Wie lassen sich diePrinzipien einer freien Produktionsweise praktisch auf andere odergar sämtliche gesellschaftlichen Tätigkeitsbereiche ausdehnen? Ineiner Zeit größter Krisenanfälligkeit ist die Frage von besondererBedeutung. Die Keime einer Antwort könnten in „argentinischen“Umständen in relativ kurzer Zeit Wurzeln schlagen.


(1) Vom Standpunkt der Ökonomie aus kann man m.E. nicht beweisen, dass „man“ kein einfaches „Capital fixe“ ist.


52 Veröffentlicht auf der Website des Oekonux-Projekts: www.oekonux.de/

Veröffentlicht in Briefe