20.–23.11.04.
Lieber Stefan,
Bald sind 3 Monate vergangen seit Deinem letzten Brief. Er lag die ganze Zeit samt der Unterlagen auf meinem Tisch. Ich hab ihn wiederholt gelesen, und auch deinen Beitrag zur Utopie-Debatte. Der Beitrag erhält, im Zusammenhang mit der Krisis-Spaltung, eine besondere Bedeutung. Ich halte Kurz‘ Schwarzbuch für ein hervorragendes Werk, auch sprachlich, und konnte auch sonst viel von ihm lernen. Dass er in seiner Polemik mit dir, Franz und Weiß wild und bissig dreinschlägt, ist für mich eine traurige Enttäuschung, und ich kann den Schmerz nachvollziehen, den du empfindest. Eitelkeit, Rechthaberei und Herrschsucht sind leider nicht Dummköpfen vorbehalten. Den Ausbruch von furioser Feindschaft zwischen Sartre einerseits, Merleau-Ponty, Camus, Claude Lefort andererseits habe ich seinerzeit miterlebt.80 Er hatte auch nicht rein politische Gründe.
In den vergangenen drei Monaten war ich voll damit beschäftigt, einen kleinen Fragebogen zu beantworten, der mir von einer südbrasilianischen Jesuiten-Universität vorgelegt worden war. Dabei bin ich auf Schwierigkeiten gestoßen, die ich nicht geahnt hatte. Ich lege dir einen langen Artikel von Slave Cubela bei, der einige dieser Schwierigkeiten widerspiegelt.81 Wahrscheinlich hast du ihn längst gelesen (?). Ich bin wie ihr davon überzeugt (und zwar seit 30 Jahren), dass wir uns in einer Überakkumulationskrise befinden, die höchst schwierig – und jedenfalls nicht schmerzlos – zu überwinden ist. Aber immer wieder tauchen gegenläufige Phasen auf, die die Überzeugung schwächen, dass es im Rahmen des bestehenden Systems kein „Heil“ gibt.
Z.B. Nach den jüngsten Angaben sinken wohl überall die Lohnquoten, aber die Profit(oder Gewinn)quoten haben Rekordhöhen erreicht. Die Überakkumulation drückt sich darin aus, dass die Firmen über Finanzmassen verfügen, die sie nicht mehr verwerten können, außer durch Plünderung der Gemeingüter und als Spekulationskapital. Die 374 Firmen des S&P Index in den USA verfügen über 555 Milliarden $ Reserven, Microsoft allein über 60 Milliarden, zu denen jeden Monat eine weitere mehr hinzukommt(1). Die Selbstfinanzierungsrate beträgt in den USA 115%, in Deutschland 110%, in Japan 130% (Frankreich „nur“ 95%). Gleichzeitig werden 15%ige Dividenden ausgeschüttet.
Dass das (Finanz)Kapital keine (genügende) Verwertungsmöglichkeit im Produktionsprozess zu finden vermögt, mag die Tiefe der strukturellen Krise überzeugend zu belegen. Aber wie kann man die „working poor“, die Obdachlosen, die „geringfügig Beschäftigten“, alle diejeingen, denen Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe gestrichen werden; oder diejeingen, deren Postamt oder Eisenbahnlinie als nicht (genügend) rentabel abgeschafft worden sind, davon überzeugen, dass eine fiskale Umverteilung der überschüssigen Gewinne eine Schnapsidee sei und es einfach dumm ist zu behaupten, „Geld ist genug da“? Wie kann man Widerstand gegen Sozialabbau und den Abbau des Gemeinwesens mobilisieren, wenn man den Rausgeschmissenen keine andere Aussicht zu bieten hat als die des zukünftigen Kollaps eines sich weiter entzivilisierenden Weltwirtschaftssystems und keine anderen Aktionen als Formen alternativer Praxis, deren Ansätze wir kaum noch ausfindig gemacht haben? (außer auf dem Gebiet der Free Software)
Es ist, als fänden wir in modifizierter Form die alte Kluft wieder, die in den 50-er, 60-er Jahren die reformistische Sozialdemokratie und die KP der meisten Länder schied, d.i. die Bemühung den Kapitalismus sozial zu gestalten einerseits und die Bemühung andererseits, die Massen zu überzeugen, es könne kein Heil im bestehenden System geben, man müsse es abschaffen (und brauche dazu die Sowjetarmee).
Damals glaubten einige von uns (Alten), die vermittelnde Lösung des Problems in den sogenannten „systemdurchbrechenden“ revolutionären Reformen finden zu können, die aber einen Typ von Gewerkschaftsbewegungen voraussetzten, die man allein in Teilen der CGIL und ab 1964 in der CFDT finden konnte.82 Alles seit 30 Jahren tote Illusionen. Widerstand drückt sich heute hauptsächlich in symbolischen Aktionen aus, die das System und seine Statthalter delegitimieren oder (z.B. Reclaim the Street83) lächerlich machen aber nicht nachhaltig schwächen. Ob die öfters wieder in Demonstrationen auftauchende Forderung eines bedingungslos gesicherten, ausreichenden Grundeinkommens nicht trotz allem einen Durchbruch in Gang setzen könnte, obwohl es Waren- und Geldbeziehungen nicht ausdrücklich zu überwinden sucht (dazu müsste es in Verbindung mit einem sich ausbreitenden Netzwerk von Selbstversorgungskoop stehen), ist eine Frage, die ich nicht einfach ausschließen würde.
Wie immer es auch sei: die einzige Bewegung, die die Herrschaft des Kapitalverhältnisses und des „Werts“ angreift und schwächt, ist die Freie Softwarebewegung. Warum Franz S. das etwas abschätzig belächelt, ist mir noch nicht klar.
Aber zurück zum Ausgangspunkt dieser Abschweifung: Trotz sinkender Lohnquoten, schrumpfender Wertsubstanz übersteigen die Gewinnquoten der Firmen ihren historischen Höhepunkt. Wie das in den USA möglich ist (momentan) kann ich mir erklären: die Nachfrage wird weiter durch großzügige Konsumentenkredite und das Defizit (>6%) des Staatshaushalts angeheizt. Ausgesprochene Spekulationsblasen spielen keine bedeutende Rolle mehr. Aber wie und wo bringen es die deutschen Firmen zu Rekordgewinnen? Wie und wo schöpfen und realisieren sie die entsprechende Masse von Mehrwert? Allein durch das Anwachsen der Exportquote? Und das hysterische Geschrei über die Faulheit der Arbeitslosen, die unerträglichen Sozialausgaben und überhöhten Löhne, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zum Hauptzweck, die Exportquote weiter zu erhöhen und die deutschen Gestehungskosten im gleichen Ausmaß zu senken wie die Fed den Wechselkurs des $ senkt? Oder wollen sich die Finanz- und Konzernherren endlich dafür rächen, dass sie 50 Jahre lang eine „soziale Marktwirtschaft“ ertragen mussten? So widerlich und verlogen sah es selbst unter Thatcher nicht aus: Es gab noch eine vielseitige Opposition, und auch die britische Presse hatte immer Organe, die Widerstand leisteten gegen den Zeitgeist.
Kurz: Es würde doch helfen, die reale ökonomische Lage und Entwicklung mit handfesten statistischen Angaben zu belegen und zu analysieren, wie es Robert Brenner tut. Dass eine Umverteilung von oben nach unten „bestenfalls als Krisenaufschub wirken kann“, wie du letztes Jahr schriebst(2), enthält ja auch die interessante Aussage, dass wir auf Selbstmordkurs sind. Aus der Tatsache, dass die „Umverteilung“ (vielleicht) vom ökon. Standpunkt aus möglich ist aber aus „politischen“ (Herrschafts)Gründen verhindert wird, ließe sich so einiges herausholen an radikalisierenden, bewusstseinsfördernden Argumenten. Es hängt davon ab, wie man die Sache darstellt und angeht. Bis jetzt ist sie von den Rechtsradikalen ausgenützt worden. Die „Wertkritischen Kommunisten“ in Leipzig: ein Lichtblick!84
Vor kurzem habe ich die beiden Teile deines „Zur Theorie des Informationskapitalismus“ wiedergelesen und anschließend die Kritik von Lohoff. Unser erster Briefaustausch, vor beinahe genau einem Jahr, streifte dieses Thema. Eigentlich hätte ich die deutsche Fassung meines Büchleins auf- und umarbeiten müssen, um deiner Debatte mit Lohoff (und umgekehrt) Rechnung zu tragen. Dieser Aufgabe fühlte ich mich jedoch nicht gewachsen. Ich denke bloß, dass die „Informations“- resp. Wissensarbeit wertschöpfend ist oder nicht, je nachdem ob sie der Herstellung vermarktbarer Gegenstände dient oder der Herstellung des Herstellers selbst, d.i. der Selbstvermarktung resp. Selbstentfaltung. Für letzteren Fall verwendet Marx den Ausdruck „allgemeine Mächte des menschlichen Kopfes“, was darauf hinweist, dass Selbstentfaltung, Entfaltung menschlichen Fähigkeiten „allgemeine Arbeit“ ist und Voraussetzung einer auf (lebendigem) Wissen gründender Ökonomie. Dass dieses lebendige Wissen sich in seiner Entwicklung auch anhäuft, sowohl im Gedächtnis der Menschen als gewusste Kenntnisse gespeichert, als in Form toten Wissens wirft das heikle Problem auf, ob, wieweit, unter welchen Umständen der Mensch selbst im unmittelbaren Produktionsprozess die Rolle oder Funktion eines Capital fixe einnimmt, welches das Resultat einer Investition von Arbeitszeit ist, also von (kapitalproduktiver) Wissensarbeit. (Persönlich gesagt: das Problem widert mich schließlich an, weil es auf die Möglichkeit der totalen Instrumentalisierung der totalen Subsumption der menschlichen Entfaltung verweist und jeder Antwort die Notwendigkeit des Widerstands vorausgeschickt werden müsste: „Das darf nicht sein.“ Die Gelassenheit, mit der Marx zum Schluss kommen wollte: „capital fixe being man himself“ hat mich immer irritiert. Er nimmt Selbstverwertung hin, als sei sie eine Notwendigkeit und leistet dem Pankapitalismus Negris Vorschub.)
Anders gesagt: Inwieweit darf man die Produktion von Arbeitskraft gleichsetzen mit der Produktion von Produktionsmitteln (von capital fixe) und folglich die Reproduktionsarbeit mit kapitalproduktiver Arbeit gleichsetzen, wie dies die Negristen tun? Diese betrachten ja „die dritte Transition des Kapitalismus“ als Ausbeutung der unbezahlten Arbeit des sich-selbst-Produzierens, welche ihnen als Mehrarbeit gilt.
Darin sehe ich eine Akrobatik die zum Zweck hat, das Wertgesetz zugleich umzusetzen und zu retten, sodass der Wissenskapitalismus als ein Kapitalismus mit neuen Grundlagen behandelt werden kann: Wissen als Hauptquelle von Wert ersetzt unmittelbare (abstrakte) Arbeit. Aber mit der abstrakten Arbeit als Wertquelle verschwindet auch der Mehrarbeitsbegriff und die Relevanz der ganzen politischen Ökonomie. Negri erkennt das an. Im letzten Beitrag von Kurz („Finanzkapital“) kommt die gleiche Idee zum Ausdruck: „abstrakte Arbeit ist obsolet“, folglich der Mehrarbeits- und Mehrwertbegriff.
Die Frage, wie und wann Wissen(sarbeit) Wert schöpft oder nicht, gewinnt hier also ein Ausmaß, das zu grundlegenden Untersuchungen und Revisionen zwingt. Ebenso wie abstrakte Arbeit lässt sich Wissen(sarbeit) nur über den Umweg seiner Materialisierung in Warenform vergeldlichen. Kapitalproduktiv ist es (sie) nur insofern es die Mehrarbeits- oder Mehrwertrate, d.h. die Produktivität abstrakter Arbeit, erhöht. Also ist Wissen(sarbeit) weiter von abstrakter Arbeit abhängig und kann aus sich selbst heraus keinen (Mehr)Wert schöpfen.
Aber: es oder sie kann „Wertzuwachs“ erlauben, nur hat dieser zusätzliche Tauschwert mit dem ökonomischen Wertprinzip nicht mehr viel zu tun. („Innovation ist die wichtigste Wertquelle“, schreiben Negri und seine Anhänger. Wobei es für „Innovation“ natürlich kein Wertmaß gibt und Innovationsrenten von anderweitiger Mehrwertschöpfung alimentiert werden müssen.)
Bleibt immer noch die Frage: Wie kann eine Ökonomie weiterfunktionieren, in der der bei weitem überwiegende Anteil der Erwerbsbevölkerung Arbeit in der Form von Dienstleistungen betreibt, die nicht kapitalproduktiv sind und Wert verzehren, auch wenn sie hohe Gewinne (namentlich im Handel) einbringen; und die, insofern sie produktivitätssteigernd wirken, den bereits schwindenden Anteil wertproduktiver Arbeit immer schneller verringern? Die Reproduktion des Gesamtkapitals – von der Gesamtgesellschaft gar nicht zu reden – kann so nicht mehr stattfinden. Und dennoch, dieses System, das für immer geringere Mengen (wert)produktiver Arbeit immer weniger Zahlungsmittel an immer weniger Menschen austeilt, ist noch imstande seinen Betreibern hohe Geldgewinne zu verschaffen. Wie? Wie lange?
Lieber Stefan, vor einem Jahr hattest du die Hoffnung, in dem Buch von mir aufschlussreiche Ausführungen zur Wissen-Wert Frage zu finden. Wie du siehst, bleibt das Problem für mich weiter bestehen. Gefunden habe ich hauptsächlich in ihm den Hinweis auf die dringende Notwendigkeit einer anderen (Negt nennt sie „Gemeinwesen“-) Ökonomie und eines anderen Reichtumsbegriffs. Du hast mir damals den Postone geschickt. Er hat mich in einigen Überzeugungen bestärkt und auch davon überzeugt, wie gründlich man sein sollte und wie ungründlich ich war und bin. Er war eine erfreuliche und bereichernde Lektüre.
Ich lege noch 2 Zitate bei, die in die gleiche Richtung weisen und die „Wert“-Frage in ein anderes, nicht-ökonomisches Licht stellen. Ich kann mir, dass du bei VerDi viel Arbeit hast. Ich erwarte nicht, dass du auf alle in diesem Brief aufgeworfene Fragen eingehst. Du wirst, wenn du Zeit und Lust dazu hast, diejenigen, die dich anregen, aufgreifen. Mir hat es geholfen, sie dir mitzuteilen und dabei besser zu formulieren, als ich es sonst könnte.
Für die Unterlagen, vor allem den Text von Nahrada, danke ich dir sehr. Er erinnert mich an die Enzyklopädie der „konvivialen“ Selbstversorgungstechnologien, die die Gefährtin von Ivan Illich vor 30 Jahren vorbereitete. Ich hab ihr ein Vorwort dazu geschrieben. Sie ist nie erschienen, aber die Rolling Stones haben etwas ähnliches veröffentlicht (1976).
Recht herzliche Grüße.
André.
Norbert Wiener
„Wenn man sich die 2. industrielle Revolution abgeschlossen denkt, hat das durchschnittliche menschliche Individuum mit mittelmäßigen oder noch geringeren Kenntnissen nichts zu verkaufen, was für irgend jemand das Geld wert wäre. Die Antwort ist natürlich, dass wir eine Gesellschaft haben müssen, die auf menschliche Kenntnisse gegründet ist und nicht auf Kaufen und Verkaufen.“
Kybernetik, … Düsseldorf 1992 (1948), S. 59.
zitiert in R. Kurz, Schwarzbuch, S. 612(3)
S. auch S. 791, §2 und 3.
„Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.
… das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein alles Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß ein relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.i. Würde.“
Immanuel Kant,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
(1) Dass es sich bei Microsoft um eine Rente, nicht um (Mehr)Wertschöpfung handelt, ist mir klar. Alle Firmen haben ja das Ziel, sich eine Rente zu verschaffen, d.h. Anderswo geschaffenen Mehrwert zu plündern. Aber das setzt eben voraus, dass im Großen und Ganzen Mehrwert weiter in Rekordhöhen geschaffen wird.
(2) Zur Theorie des Informationskapitalismus, 2. Teil, §52 [10].
(3) Robert Kurz, Schwarzbuch des Kapitalismus, Eichborn. Un chef-d’oeuvre.
80 Jean-Paul Sartre (1905-1908), französischer Romancier, Dramatiker, Philosoph und Publizist; Maurice Merleau-Ponty (1908-1961), französischer Philosoph und Phänomenologe; Albert Camus (1913-1960), französischer Schriftsteller und Philosoph; Claude Lefort (1924-2010). französischer Philosoph.
81 Vgl. Slave Cubela 2004.
82 CGIL: Confederazione Generale Italiana del Lavoro, italienischer Gewerkschaftsdachverband; CFDT: Confédération française démocratique du travail, französische, in den 1970ern linkssozialistische Gewerkschaft.
83 „Reclaim the streets“ ist globalisierungskritische Bewegung und Aktionsform zur Rückeroberung des öffentlichen Raums.
84 Gorz bezieht sich hier vermutlich auf den Text „Kommunismus ist machbar!“ in Streifzüge 30/2004. Die Wertkritischen Kommunisten Leipzig bestanden von 1999 bis 2006.