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Mai–Juni 2004: André Gorz an Stefan Meretz

Vosnon, Mai–Juni 2004.

Lieber Stefan,

zuerst war meine Frau krank, dann ich, dann beide. Das hat u.a. den Brief, den ich vorhatte, verzögert. Es war aber nicht nur verlorene Zeit Von einem der hier lebenden Kurzianer (Gérald Briche) bekam ich den „Kollaps der Modernisierung“55 zugeschickt und konnte ihn gespannt lesen. Dabei hat es mich besonders gefreut, darin die Bestätigung von Vorstellungen zu finden, mit denen ich mich etwas allein fühlte: z.B. den Begriff und die Kritik der „Entsinnlichung“, den Hinweis auf die enge Verwandtschaft von Wissenschaft und Kapital (das spielt in der deutschen Fassung von L’Immatériel eine zentrale Rolle), die Idee der kommunalen Selbstversorgungskooperativen als praktische Veranschaulichung eines anzupeilenden entmonetarisierten Jenseits des Systems… Die Matrix der ökonomischen Analyse von Kurz kommt sichtlich aus den Ausführungen der Grundrisse S. 241–246 und 635ff. Aber warum hat sich Kurz alle faktischen, statistischen Angaben bezüglich der organischen Zusammensetzung des Kapitals erspart? Sie hätten nicht geschadet.

Das Krisis-Netzwerk funktioniert(1): Von Anselm Jappe erhielt ich nun „Les Aventures de la marchandise“ (Denoël, 2003), das hoffentlich auch auf deutsch erhältlich ist.56 Das letzte Kapitel enthält eine (m.E.) hervorragende Kritik von Negri-Hardt: die Leere der Kategorien, der verschwommene „Wert“begriff, die rein verbale Akrobatik, die Beweisführung und Analyse ersetzt, das Hohelied auf die „Selbstverwertung“ die scheinbar geldlos und ohne Warenförmigkeit und Warenbeziehungen sich vollzieht und auch in Abwesenheit jeglicher Herrschaftsverhältnisse …, all das in weniger als 10 Seiten, es war Zeit, dass der große Schwindel aufgedeckt wird. In „L’Immatériel“ habe ich gegen den Negrismus stellenweise argumentiert, ohne ihn jedoch gänzlich aufs Korn zu nehmen. Erleichterung.

Zufällig stieß ich auch auf einen vergessenen Artikel Negris (Die Beute, Nr. 2, 1998).57 Dort liest man, dass „der Massenarbeiter sich selbst verwertet, indem er die fordistische Arbeitsorganisation verweigert“, wobei „Selbstverwertung nicht mehr und nicht weniger bedeutet als Aneignung des fixen Kapitals, … Verselbständigung eines Teils des fixen Kapitals in den Köpfen“, wobei es rätselhaft bleibt, wie dieses fixe Kapital sich verwertet, ohne je die Wertform anzunehmen. N. weist bloß darauf hin, dass „der Wert nicht mehr das ist, was er war“ (die Arbeit übrigens auch nicht und auch das Kapital nicht), und dass man „ein Verständnis dafür entwickeln muß“, „welche Dimensionen Wert und Arbeit unter den Bedingungen der Massenintellektualität auszeichnen“. Wert und Arbeit werden sozusagen auf dem Boden von W. und A. aufgehoben, verwandeln sich und bestehen weiter…

Ich musste den Brief wieder eine Woche lang unterbrechen. Jetzt geht es wieder besser. Dein Brief vom 29.5. (irrtümlich 29.3. datiert) hat mich gefreut und sehr interessiert. Insbesondere deine Bemerkung, dass „Konflikte und auch Eitelkeiten“ natürlich nicht einfach verschwinden können, aber „selbstreflexiv und selbstkritisch wahrgenommen werden“, was auch dich besonders erfreut. Von Anfang an war ich ja in die Oekonux und Krisis„bewegung“ durch die Sympathie angezogen, die ich für deine und für Franz Schandls Haltung (Diskussions- und Kommunikationsbereitschaft, Offenheit, Wärme) empfand. Ihr gebt einem (mir) Lust, da hineinzugehören und vieles lernen zu können. Welch ein Unterschied zu der negristischen Sekte(2). Ich kann Eitelkeit und Rechthaberei nicht ausstehen und fürchte immer (z.B. mit dem „Geleitbrief“) als überheblich, pretentiös zu erscheinen. Das Buch von mir (Titel: Wissen, Wert und Kapital / Kritik der Wissensökonomie) kommt im August bei Rotpunkt (Zürich) heraus. Ein gutes Drittel habe ich auf deutsch neu geschrieben und mit deiner Hilfe das Kapitel, in dem es um Wissenskommunismus und Freie Softwarebewegung geht, ergänzt.

Das längste Kapitel (2.), das dem Ganzen den Titel gibt, ist eine Auseinandersetzung mit u.a. Rifkin und den Negristen bezügl. der Vorstellungen über „Wissenskapitalismus“ und „Wissensgesellschaft“. Das führt zurück zu unserem Briefwechsel im März. Die Wertsubstanz von „Wissen“ ist unberechenbar. Da es nicht nur in Betrieben und Instituten produzierte Kenntnisse, sondern auch Know-how und Alltagswissen einschließt und, wie Enzo Rullani es am besten zeigte, es keinen Markt geben kann, auf dem alle möglichen Wissen sich als Waren handeln lassen, miteinander konkurrieren und auf einen gemeinsamen Nenner (eine gemeinsame Wertsubstanz) rückführbar sind, und übrigens die Heterogenität der Wissensinhalte und -formen sie oft als nicht gegeneinander tauschbare Eigenwerte erscheinen lässt, sind die Kategorien der politischen Ökonomie hier schwer oder gewaltsam anwendbar. Selbst die gesamtgesellschaftliche Arbeitszeit, die für Wissen verausgabt wird, ist unbestimmbar. Denn alle Lebensäußerungen tragen zur produktivitätssteigernden Entwicklung kognitiver Fähigkeiten bei

[und sollen (so die Negristen) als unbezahlte Arbeit angesehen werden, die einen universalen Soziallohn verdient. Wie kognitive Fähigkeiten vergeldlicht und in Wertform verteilt werden können, bleibt dabei rätselhaft. Die ganze Lebenszeit soll oder kann als Arbeitszeit angesehen werden. Zwischen der von Negri(3) und Koll. vertretenen Auffassung von Existenzgeld und den „lifetime value“ gibt es kaum einen Unterschied.]

Trotz allem, leuchtet es mir schon ein, wenn Negri und seine Anhänger in der sog. Wissensökonomie – dem „kognitiven Kapitalismus“ – eine Krise des Wertbegriffs ausmachen, der letzten Endes auf eine andere Ökonomie (du sagst: eine Antiökonomie) verweist, in der die unmessbar gewordene Arbeitszeit die Abschaffung des Werts als Grundlage der Schöpfung von Reichtum verlangt. Im Unterschied zu Postone vertritt aber Negri einen anderen Wertbegriff, denn er will wohl das „Wertmaß“, nicht aber den Wert selbst aufgeben. Das führt dann zum – hauptsächlich von Lazzarato theoretisierten – Begriff des „Eigenwerts“ (Gabriel Tarde), d.i. des nicht quantifizierbaren und unvergleichlichen „Werts“ all dessen, das nicht dazu bestimmt ist, getauscht zu werden, also seiner selbst willen (als Selbstzweck) geschöpft ist. Das Wichtigste ist hier, dass derartige Reichtümer nicht ursprünglich als Waren und in Warenform in die Welt gesetzt sind, was natürlich nicht ausschließt, dass in einer Warengesellschaft ein Markt für sie entstehen kann, auf dem sie einen (übrigens kapriziösen, stark schwankenden) Tauschwert haben, je nachdem, ob es Sammler für sie (z.B. Manuskripte, alte Fotos usw.) gibt. Die Vermarktung alles möglichen nicht für den Kauf und Verkauf Bestimmten soll aber nicht dazu führen, ein mögliches Jenseits von Waren/Tauschbeziehungen für utopisch zu halten und die Entwicklung des Widerstands gegen die Warenbeziehungen, die vorherrschen, zu minimieren. Gegen die Vermarktung von allem Kulturellen, z.B., entwickelt sich ein geradezu anti-ökonomischer Widerstand. Sinn, Erkenntnis, Wahrheit, literarische Qualitäten (eines Buches, z.B.) dürfen keinen Tauschwert haben, Tauschbarkeit ist die Negation des Eigenwertes. Bei Oskar Negt fand ich folgendes Kant-Zitat: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was hingegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ D.i. „einen inneren Wert“.

Die gegenwärtig sich vollziehende Verwertung der Eigenwerte – namentlich des kulturellen und naturgegebenen Gemeinguts – ist deren Entwertung als solche. Die Ware verkleidet sich in einen Eigenwert um sich dem Wettbewerb zu entziehen und dem Verfall ihres Tauschwertes, ihrer Wertsubstanz. Sie bemächtigt sich eines gratis zur Verfügung stehenden wertlosen Reichtums. Und indem sie ihn geldlich verwertet entwertet sie seinen Eigenwert. Naomi Klein58 und z.T. auch Rifkin haben das sehr gut beschrieben (aber nicht analysiert): Markenprodukte fangen damit an, ihre unvergleichliche Vortrefflichkeit dadurch zu belegen, dass sie als Mäzene für Aufführungen klassischer Künstler auftreten. Dann verkehren sie das Verhältnis: Die Marke selbst bürgt für die Vortrefflichkeit der Künste, der Tauschwert wird Beweis von Eigenwert, der als solcher mit dem Warenwert verschmilzt.

Lieber Stefan, ich weiß nicht, ob uns das weiterbringt. Von der Richtigkeit deines Einwandes bin ich überzeugt: „Nicht die Kategorie des Tauschwerts verliert ihre Geltung, sondern das immer weniger aufrechtzuerhaltende Verhältnis von Wertsubstanz mit schwindender Wertgröße und der Form des Tauschwerts.“ Bedeutet das nicht umgekehrt, dass der Tauschwert sich zu verselbständigen trachtet um nur noch von einer gegen Wettbewerb geschützten Marketingstrategie bestimmt zu sein?

Weiter gefällt mir besonders deine Bemerkung: „Was die Negristen „affektive Arbeit“ nennen, kann nicht in die Arbeitsform gebracht werden, weil sie nicht nur „wertlos“, sondern sogar „wertverzehrend“ ist“.(4) Das ist der Einwand gegen die Vergütung der Lebensäußerungen, die angeblich produktivitätssteigernd wirken – also gegen die Verökonomisierung der Nicht-Arbeit.

Wenn es schriftliche Beiträge Franz Nahradas zur Oekonux-Konferenz gibt (du erwähnst „globale Dörfer“, „Kreisschlüsse alternativer Produktionen“) würde mich das interessieren. Wenn sie auf englisch existieren, würden sie für hiesige Interessenten zugänglich sein.

Sei recht herzlich gegrüßt.

André.


(1) Es ist mir klar, dass ich diese Kontaktaufnahmen, deren Initiator Wolfgang K. ist, dir verdanke.

(2) Dass die Krisisgruppe sich gespalten hat, weist nun auch darauf hin, dass zumindest in den oberen Etagen Sekten- und Herrschaftsmentalität herrschen. Die 5 oder 6 in Frankreich lebenden „Kurzianer“ machen die Spaltung nicht mit, schrieb mir A. Jappe.

(3) Negris „Marx jenseits von Marx“ sind zehn Vorlesungen, die er Anfang der 70iger Jahre als Gastprofessor an der Ecole des Hautes Etudes hielt. Er war und ist auch Prof. der Philosophie an der Universität von Padua und hat u.a. ein angesehenes Werk über Spinoza veröffentlicht.

(4) Beim Wiederlesen kommt mir hier eine Idee: Dass sie nicht in die Arbeitsform gebracht werden kann, bedeutet das nicht, dass sie nicht in Zeiteinheiten bemessen und kapitalproduktiv sein kann? Keinen Mehrwert, kein Mehrprodukt, das akkumulierbar wäre, schöpfen kann? Gilt das alles nicht auch für sog. „Wissensarbeit“, die als Mehrprodukt höchstens erweiterte Selbstentfaltung schöpft, sog. Humankapital, das nicht in die Wert- und Kapitalform übersetzbar ist? Also auf eine andere Ökonomie – ein Anderes der Ökonomie – hinweist? Das ist die These, die ich auszuarbeiten versucht habe.


55 Vgl. Robert Kurz 1991.

56 Anselm Jappe (*1962), deutsch-französischer Philosoph. Das erwähnte Werk erschien auch auf deutsch, vgl. Jappe 2005.

57 Vgl. Toni Negri 1998.

58 Naomi Klein (*1970), kanadische Journalistin, Schriftstellerin und Globalisierungskritikerin.

Veröffentlicht in Briefe