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02.01.2005: André Gorz an Franz Schandl

2.1.05

Lieber Franz,

Am Ende kam ich zu folgendem Schluss: Es war alles gut gemeint aber schlecht durchdacht. Doch fangen wir lieber am Anfang an.

Am Anfang war ein erschütternd schöner Brief von Dir. Im Lauf der folgenden Monate und Briefwechsel schien sich eine persönliche Nähe zwischen uns zu entwickeln. Ich schlug Dir die Du-Form vor. Darüber schienst Du mir nicht besonders glücklich und ich fragte mich, ob ich vielleicht voreilig gewesen wäre (mit Stefan, ein wunderbarer Mensch, fing es gleich von Anfang an mit Du („du“) an).

Aber nein. Du wolltest noch vor seinem Erscheinen das Buch von mir fördern, in Net vorstellen, als erstes besprechen. Du hast versucht, bei „Freitag“ 3–4 Seiten in die Utopie-Debatte einzuschleusen, und diese Seiten waren unglaublich gut gewählt: Sie enthielten das zentrale Thema, um das die anderen Themen kreisen. All das war sehr lieb von Dir, ich fühlte mich verstanden und war Dir eng verbunden.

Mitte November schickte mir Simmen Deinen Artikel in der SZ. Zur gleichen Zeit kam Dein Brief vom 16.11., der mich warnte: Deine Rezension sei „wenig gelungen“, aus verschiedenen Gründen, der Artikel in Streifzügen würde „besser sein“. Tatsächlich schien mir der SZ-Artikel journalistisch schlecht: abstrakt, lustlos, als wäre es eine lästige Pflichtarbeit gewesen. Wahrscheinlich hatte Franz dringendere Dinge zu tun, dachte ich. (Über etwaige inhaltliche Fragen soll es hier nicht gehen. Jeder versteht ein Buch anders und versteht anderes in ihm. Vielleicht komm ich einmal dazu, in 5 Linien zu klären, wie ich es verstehe.)

Den WOZ-Artikel wollte Simmen mir nicht schicken: „Damit verlieren Sie nur Ihre Zeit“, meinte er. Nun, eine Buchbesprechung kann schlecht und auch irrig sein, entscheidend ist, ob sie auf das Buch neugierig macht. Der SZ-Artikel tat dies kaum. Im WOZ-Artikel fiel mir zuerst auf, dass ca. 1/3 dem für mich eher nebensächlichen Thema „Existenzgeld“ gewidmet war und dass der Artikel mit einer schulmeisterlichen Belehrung endet. Überdies enthielt diese Belehrung eine Sinnverkehrung.(1)

Hätte Simmen (oder hättest Du) mit diesen Artikel gleich übermittelt, hätte ich, nach Rückfrage bei Dir, eine Richtigstellung verlangt und erhalten. Aber es war zu spät: Wochen waren seit dem Erscheinen in der WOZ vergangen.

Ich habe mehrere Tage mit der Frage gelebt: Hat Franz die betreffenden Seiten mit der Brille von Vorurteilen gelesen? Warum hat er es nötig, mir in einer bescheidenen Zeitung eine Belehrung zu erteilen? Dann war es mir zu dumm und ich schickte Dir einen kurzen Fax, der auf die Sinnverkehrung hinwies.

Meinen Hinweis hast Du gleich ohne ihn zu überprüfen abgewiesen. Du wolltest plötzlich der Beleidigte sein. Dass Du Dir nicht einmal die Mühe nahmst, die beiden Texte zu vergleichen und mich gleich übertriebener Eitelkeit bezichtigtest, das war mir am Ende zu viel. „Wir haben beide gerade einen Freund verloren“, dachte ich mir. Bevor ich Dir das mitteilte, wollte ich Dich zwingen, die Sinnverkehrung im Zitat einzusehen. Ich schickte Dir am nächsten Tag den Fax mit Kopien der beiden Texte.

All das lässt sich nicht leicht verarbeiten und schnell vergessen. Aus Deiner sofortigen Antwort konnte ich schließen, dass Du leicht bestürzt warst, „Deinen“ WOZ-Artikel nie richtig gelesen hattest und Dir nicht bewusst warst, dass diese Deine Nachlässigkeit die Ursache einer schweren Vertrauenskrise geworden war. Du kannst nicht alle Verantwortung an den dummen WOZ-Redakteur abschieben und sagen „Dafür kann ich nichts“. Das wollte ich Dir klar machen (s. meinen letzten Fax) nachdem ich endlich die Streifzüge erhielt.

So, jetzt bin ich soweit. Die rasche Antwort auf meine letzten Zeilen haben mir bewiesen, dass unsere Beziehung für beide von uns wichtig bleibt. Dein Artikel in den Streifzügen ist sehr schön und rührt mich. Inhaltlich enthält er einige Punkte, über die wir diskutieren sollten. Es ist höchste Zeit (auch) für mich, die Geschichte, die doch mehr als ein „Missverständnis“ war, loszuwerden.

Liebe Grüße und allerbeste Wünsche fürs kommende Jahr Dir und Deiner Familie.

André.


(1) Diese erklärt sich aus der Doppeldeutigkeit Deiner Formulierung. Dein Satz lässt sich nämlich auch so lesen: „unabhängig von Transferleistungen, kann sie sich durch die Besteuerung von … etc. finanzieren.“ Einer, der nicht weiß, was Transferleistungen sind, lässt sie einfach weg und glaubt, dies sei klarer.

Veröffentlicht in Briefe