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17.04.2005: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 17.4.2005

Lieber André,

ich bin so eingespannt mit dem Projekt bei ver.di, aber ein kurzen Eindruck möchte ich dir doch von dem Seminar geben, da es dich sicherlich interessiert.100

Zunächst mal war das Interesse an der Veranstaltung dürftig. Wir hatten vielleicht 25 Besucherinnen und Besucher am Freitag, wo ich den Inhalt der Kapitel I bis III des Buches vorstellte. Um die Diskussion nicht sofort auf das „greifbare“, aber prognostisch hoch umstrittene Thema des „Existenzgeldes“ zu fixieren, sondern der Analyse mehr Gewicht zu geben, hatten wir vorher in der Gruppe entschieden, dass ich dieses Thema ausklammere. Ich glaube, das war auch gut so. Die Diskussion war dann sehr intensiv und – was durchaus für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich ist – gab es auch keine „rechthaberischen Beiträge“. Die Stimmung war eher die eines gemeinsamen Suchens und Forschens, ob die Analyse des Buches zutrifft, wo sie nicht ausreicht, wo sie unzutreffend ist. Sicherlich hat die Gruppe, die verteilt im Publikum saß, durch ihre Art mit dem Gegenstand umzugehen, dazu beigetragen, erst gar keinen „Hahnenkämpfe“ aufkommen zu lassen.

Inhaltlich wurde am intensivsten über die von dir vorgeschlagene Unterscheidung von formalem und lebendigem Wissen nachgedacht. Diese Frage wurde auch am nächsten Tag beim Workshop weiter diskutiert. Die Veranstaltungen sind immer so konzipiert, dass am Freitag eine „Publikumsveranstaltung“ geplant ist, während wir im kleinen Kreis am Sonnabend das Thema intensiv weiter bearbeiten. So waren wir am Sonnabend nurmehr 9 Personen. Die Diskussion war dafür umso intensiver. Sie würde gespeist durch zwei Beiträge von Uli Weiß und Stefan Merten. Ich habe die Beiträge angefügt.

Stefan Merten hatte eine Folienpräsentation, im Text anbei hast du nur die Stichworte aus den Folien.101 Manche sind vermutlich nicht verständlich ohne die mündlichen Erläuterungen – insbesondere, weil Stefan Merten doch etliche technische Beispiele verwendete (er ist da ganz Informatiker…). Auch hier wieder vertrat er seine Grundthese, dass Gegenbewegung nichts und Neu-Konstitution alles ist.

Uli Weiß setzt sich sorgfältig mit historischen Debatten im ML auseinander und hebt die Erkenntnisfortschritte in deinem Werk (im Vergleich zur Kritik der ökonomischen Vernunft) hervor.102 Wie du dem Text andeutungsweise entnehmen kannst, lehnt er das „Existenzgeld“ rundum ab. Das war jedoch nicht das Hauptthema. Für mich noch mal brisant neu – obwohl sicherlich schon manches mal gehört – war der Verweis von Uli auf die Grundrisse, in denen Marx, verkürzt formuliert, die Überlegung niederlegt, dass der Kapitalismus seine eigenen immanenten Entwicklungspotenzen ausgeschöpft hat, wenn er in der Lage ist, buchstäblich alle gesellschaftlichen Funktionen kapitalförmig zu betreiben. Marx hat damit sozusagen die heute laufende Welle der Privatisierung bislang öffentlicher Aufgaben vorausgesehen. Ich finde es deswegen so brisant, weil es keine mögliche Perspektive mehr sein kann und wird, diese nun privatisierten Aufgaben wieder unter die Obhut eines Staates zu nehmen, was ja immer noch die inzwischen verzweifelte letzte Hoffnung der Sozialstaats-Linken ist. – Ein Excerpt und Ausschnitt aus einem Artikel von Uli Weiß in Utopie kreativ habe ich mir von ihm geben lassen und lege es dir bei.103

Soweit in aller Kürze. Sei herzlich gegrüßt!

(Stefan)


100 Vgl. wadk.de/2005/andre-gorz-auf-dem-weg-in-den-wissenskommunismus/

101 Vgl. www.opentheory.org/uebergorzhinaus/text.phtml

102 Der Text ist nicht online verfügbar.

103 Vgl. Ulrich Weiß 1999.

Veröffentlicht in Briefe