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24.10.2005: André Gorz an Stefan Meretz

24.10.05

Lieber Stefan,

Dein Brief mit dem Interview à deux voix hat mich richtig beglückt. Das war schon vor zwei Monaten. Während dieser zwei Monate war ich sehr damit beschäftigt, einem jungen Dänen ein wenig Deinem und Postones Überlegungen weiterzugeben. In dem Gespräch, dass er mit mir für eine dänische Zeitschrift führen will, stellt er Fragen wie: Warum soll man gegen Selbstverwertung und Selbstvermarktung sein? Woher weiß man, was Selbstzweck ist? Er hat Philosophie und Management studiert aber die Arbeit als Management-Berater hat ihn angewidert, dass er eine Zeit lang Schullehrer war und jetzt seit ca. einem Jahr von Arbeitslosengeld (900€ netto) lebt und wieder Philosophie und Ökonomie studiert, aber eben anders. Das kann er in DK längere Zeit tun.

Dein Doppelgespräch mit Uli W. ist ganz fantastisch. Ihr macht euch nichts vor, erklärt die Schwierigkeit, Widersprüchlichkeit und dennoch Notwendigkeit eures Unternehmens, illusionslos und mit vorbildlicher Aufrichtigkeit. Welch Unterschied mit den hoffnungsvollen Aussichten, die einer wie Negri uns vorschwindelt. (Mir kann auch Schwindel bzw. Durchwurseln vorgeworfen werden, aber nicht in solchem Ausmaß.)

Endlich hab ich mir „Weltordnungskrieg“ beschafft.122 Die Breite und Tiefe von Kurz‘ Bildung – nicht nur sein Wissen – füllen mich wieder mit Staunen (awe.(1)). Z.B. S 45-75: das passt perfekt zu den Gewaltausbrüchen in den franz. Vorstädten und rückt sie in die richtige Gesamtperspektive. Auch die Weise, wie er mit Negri ins Gericht zieht überzeugt und freut mich. Die Analyse und Theorie der Krise hat er wohl anderswo ausgearbeitet.(2) Beiliegend schicke ich noch eine rein faktische phänomenologische Beschreibung der Weise, in der sich die Überakkumulationskrise ausdrückt. Das ist wichtig, überzeugend und regt an, tiefer zu schürfen. Ich denke hier an meinen dänischen Freund, dem ich eine Kopie dieser Dokumentierung schicke.

Lieber Stefan, meine Frau ist mit ihrer beschädigten Wirbelsäule momentan von meiner Pflege ganz abhängig. Ich bin bedrückt und habe nur kürzere Pausen zum Schreiben oder Nachdenken. Daher auch die Kürze dieses Briefs. Oktober ist jetzt vorbei. Ich hoffe, dass Dir das Ver.di-Projekt am Ende auch Freude u. Genugtuung gebracht hat. Wenn es für die Öffentlichkeit dokumentiert worden ist, würde es mich interessieren.

Ich wünsche Dir bessere Zeiten.

Alles Liebe.

André.


(1) Englisch.

(2) Teile davon kann man auch bei Giovanni Arrighi finden (New Left Review 33).


122 Vgl. Robert Kurz 2003b.

Veröffentlicht in Briefe