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02.06.2006: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 2.6.2006

Lieber André,

welche Koinzidenz der Briefe! Kam mein Brief zum Geburtstag für dich, so war umgekehrt dein Brief vom 12.-15.3.2006 ein Geburtstagsgeschenk für mich. Und wie Thomas Bernhard bei dir, sind bei mir Albert Einstein (Geburtstag) und Karl Marx (Todestag) mit dem Tag verbunden.

Vielen Dank für die beigelegten Texte aus der Korrespondenz mit deinem dänischen Freund sowie den Auszug aus „Ökologie und Freiheit“. Ich lese aus den Texten eine gemeinsame Fragestellung, die vielleicht nicht offensichtlich ist, mich aber sehr beschäftigt: nämlich die Frage des Verhältnisses von individueller Eingebundenheit in die selbstreproduktiven Strukturen der Entfremdung und Unterdrückung und dem subjektiven Willen zur Befreiung aus diesen Strukturen, an denen ich jedoch um meines Lebens willen teilhaben muss und sie also perpetuiere. Es ist der Widerspruch, hier und heute mit der Befreiung anzufangen, sie aber nicht erreichen zu können, weil sie nicht ad hoc gesellschaftliche Geltung erlangen kann – sie also derzeit nur unmittelbar-kooperativ als Keimform, als „molekulare Revolution“ im Meer der konträren gesellschaftlichen Geltung begonnen werden kann.

Das ist ein anderer Gegensatz als der früher häufig angeführte von „Reform und Revolution“. Der Gegensatz Reform-Revolution zielt von vornherein auf den Staat ab, der als Mittel gesehen wurde, gesellschaftliche Geltung zu erlangen. Dass das nicht dauerhaft funktionierte, zeigten die sozialistischen Staaten. Die Denkfigur Reform-Revolution blendet (mindestens) zwei Aspekte aus. Gesellschaftliche Geltung entsteht erstens „von unten nach oben“ oder besser „von innen nach außen“: von der unmittelbaren Kooperation der konkreten Einzelnen zur gesellschaftlichen Kooperation aller. Und zweitens liegt sowohl der unmittelbaren wie der gesamtgesellschaftlichen Kooperation ein „Mechanismus“ zugrunde, der die Handlungen strukturiert: die Verwertungslogik. Dabei bedeutet „strukturiert“ nicht „determiniert“ mit absoluten Sinne, dass alle Menschen den Vorgaben folgen müssten. Aber sie tun es individuell dennoch in großer Zahl, weil es subjektiv funktional ist. Es gibt individuell gute Gründe, den nahegelegten Handlungsaufforderungen auch tatsächlich nachzukommen – genauso wie es gute Gründe gibt, es nicht zu tun. Der Ansatz kann nun – wenn wir der Auffassung sind, dass gesellschaftliche Geltung nicht über das Instrument des Staates erreicht werden kann – nur der sein, jene „guten Gründe“ stark zu machen, die Menschen gegen die nahegelegten strukturellen „Aufforderungen“ handeln lassen. Das Medium dafür ist die unmittelbare Kooperation, gleich welcher konkreten Gestalt. Die Kernfrage, die mich umtreibt und meine Diskussionen mit Uli Weiß bestimmt, ist nun, wie die unmittelbare Kooperation beschaffen sein muss, dass sie nicht nur die strukturellen Logiken der Warengesellschaft suspendiert und u.U. kompensiert (was etwa die Familie tut), sondern ihnen einen im Kern anderen „Mechanismus“ entgegensetzen kann (was die Familie nicht kann). Die Freie Software hat im Kern einen solchen anderen „Mechanismus“ gefunden, der grundsätzlich die Voraussage des kommunistischen Manifests erfüllt: „Der Einzelne kann sich nur entfalten, wenn sich auch die Anderen entfalten können – und umgekehrt.“135 Hier ist also nicht eine abstrakte Struktur, die – da die Folgen des eigenen Tuns unverfügbar sind – Verantwortungslosigkeit produziert, mein „Gegenüber“, sondern konkrete andere Menschen, die meine Verantwortlichkeit erzwingen, will ich – aus guten Gründen – meine Möglichkeiten ausweiten. Hier gibt es also einen anderen nicht-abstrakten personalen „Mechanismus“, der andere „gute Gründe“ stark macht – im übrigen aber auch hier ohne eine „Garantie“, dass diese angenommen werden, da es übermächtig viele „alte gute Gründe“ gibt, die alternativen Handlungsmöglichkeiten sein zu lassen oder gar zu instrumentalisieren und damit zu zerstören. Kannst du mir bei meinen Gedanken noch folgen? Ich hoffe, ich schreibe nicht zu großen Unsinn. Aber das scheint mir in eine ähnliche Richtung zu gehen wie die Reflexion der „Psychologie de la motivation“. Gibt es von der Gruppe verfügbare (englischsprachige) Texte? Meine Denkgrundlage ist stark beeinflusst von der Kritischen Psychologie, begründet von Klaus Holzkamp (1927-1995).

Das ist meine „Folie“ beim Lesen deiner beiden mitgeschickten Texte. Auf das Thema „Knappheit“ will ich später eingehen. Zunächst generell mein Eindruck.

In „Ökologie und Freiheit“ steht der Begriff der „ökonomischen Rationalität“ in etwa für das, was ich kurz „Verwertungslogik“ nenne (bzw. die Wertkritik noch kürzer „Wertform“). Wenn ich mich an die 80er Jahre zurück erinnere, dann gab es damals die Vorstellung einer klaren Trennung der Sphäre des Ökonomischen, in der ein bestimmtes Rationalitätskalkül galt, und der Sphäre des Nicht-Ökonomischen, in der das nicht galt. Wie uns später die Wertkritik erklärte, ist das Ökonomische strukturell „männlich“ bestimmt und das davon Abgespaltene ex-negativo „weiblich“. Heute ist diese Trennung in Auflösung begriffen, jedoch „negativ“ in zweierlei Weise: Zum einen, in dem die Rationalitätsform des Ökonomischen sich in imperialer Weise als allein gültiger Handlungsmaßstab setzt, dessen Ausdruck dann die Privatisierungen öffentlicher Güter sind etc. Und zum anderen, in dem die bislang abgespaltenen Momente des „persönlichen Lebens“ für gelingende Verwertung zunehmend unabdingbar erforderlich werden. Das ist das, was Postoperaisten „affektive Arbeit“ nennen, Negri gar affirmativ als Befreiungspotenz sehen will. Die Forderung nach einem „Bruch mit der ökonomischen Rationalität“ ist also nach wie vor richtig, nur kann sie heute – da inzwischen ubiquitär – im Gegensatz zu den 70ern und 80er nur als kategorialer Bruch mit der Verwertungslogik bzw. Wertform selbst verstanden werden. Das war damals nicht erkennbar und formulierbar. Dennoch ist es faszinierend für mich zu lesen, wie hell- und weitsichtig deine Gedanken in den 70ern bereits waren.

Die Forderung nach einem kategorialen Bruch mit der Wertform selbst ist gleichbedeutend mit der Forderung nach der Entwicklung einer qualitativ anderen Vergesellschaftungsform, also der Art und Weise, wie wir unser Leben gesellschaftlich herstellen. Das „herstellen“ hört sich für viele befremdlich an, aber ich benutze es bewusst, um klar zu machen, dass bei aller Selbstreferenzialität des „Systems“ Gesellschaft immer noch wir es sind, die dieses herstellen. Und auch hier wieder die Dialektik: Wir stellen das her, das unsere Bedingung ist und unter dem wir leiden. Ich war glücklich, als ich dieses Motiv auch bei dir so deutlich lesen konnte: Arbeiten „…heißt die Produktion seiner selbst besorgen, sich selbst produzieren.“ (Wissen, Wert und Kapital, 18). Hier ist vom gesellschaftlichen Menschen die Rede, und das muss man inzwischen immer dazu erklären, weil (nicht nur) die bürgerliche Ideologie im Denken Individuum und Gesellschaft trennt und Individuum eigentlich nur als isolierten Einzelnen, als ungesellschaftliches Gesellschaftswesen, als Monade kennt.

Damit rückt die Herausforderung des kategorialen Bruchs mit der Wertform nahe an jeden Einzelnen heran. Konnte damals noch versucht werden, politisch auf die „ökonomische Rationalität“ Einfluss zu nehmen – entweder durch staatlich-legislativ gesetzte Rahmenbedingungen oder direkt im Betrieb durch „Mitbestimmung“ –, so sind diese Optionen nun ausgeschöpft (sie sind, auch das erkennen wir heute, ohnehin nur in Prosperitätsphasen des nationalstaatlich geregelten Kapitalismus gangbar gewesen). Heute jedoch ist der Kampf nicht mehr in einer abgeschlossenen Sphäre führbar, er durchzieht den Alltag eines jeden Menschen. Musste ich mich früher nur für die „richtige Seite“ entscheiden, so entpuppen sich heute die „Seiten“ als unterschiedliche Funktionen in der einen großen Maschinerie der Selbst-/Verwertung. Das schließt Klassenkämpfe nicht aus, doch sind sie nur innerkapitalistische Bewegungsformen, die im Zweifel durch den Einzelnen hindurch gehen („Ich-AG“136). Damit bin ich bei dem Widerspruchsfeld angelangt, das ich eingangs beschrieb, und das ist der Grund, warum ich den Text so lese.

Direkter wird das Thema in dem Dialog mit deinem dänischen Freund angesprochen – woran man auch den Erkenntnisfortschritt ablesen kann. Hier diskutiert ihr die Frage, wie der Kapitalismus die kommunistischen Beziehungen/Verhältnisse, die in der Sphäre der immateriellen High-Tech-Arbeit entstehen, neutralisieren kann. Meine Frage ist hier: Gibt es überhaupt ein Subjekt, dass diese Notwendigkeit der Neutralisation stellen kann? Ist es nicht viel mehr so, dass sich die Frage deswegen nicht stellt, weil der Kapitalismus aufgrund seines selbstreproduktiven Charakters eben fortwährend auch Integration und damit Neutralisierung erzeugt? Solange es keine re-/produktiven Strukturen außerhalb der Warenform gibt, ist der Erhalt der individuellen Existenz über die Teilhabe an der Verwertung – sei es in Kapital- oder Arbeitsfunktion oder beides vermischt – gewissermaßen konkurrenzlos. Auch intellektuelle Kapitalvertreter sitzen doch wie die etatistische Linke dem Irrbild des vergangenen Sozialstaats bzw. Staatssozialismus auf, was bedeutet, dass für sie die Frage nur steht, wie sie verhindern, dass „Linke“ die „Macht“ im Staat erobern. Gibt es Kapitalvertreter, die die kommunistische Potenz der immateriellen High-Tech-Produktion wirklich sehen (können)?

Umgekehrt hieße das für uns, diese „Konkurrenz jenseits der Warenform“ aufzubauen, zu vernetzen und zu verstetigen. Das hat unbewusst die Freie Software getan, weil sie in ihrem Bereich Sonderbedingungen vorfindet: Die Produktionsmittel stehen auf dem Schreibtisch und die digitale Kopie ist nahezu aufwandslos herstellbar. Kommunismus kann nur eine Reichtumsgesellschaft (mehr zu Reichtum s.u.) sein, und hier ist genau das gegeben. In dem Moment, wo der Erfolg da ist, ist auch die Neutralisation durch Integration zur Stelle. Ich kann das in meinem Projekt beobachten. Dort arbeiten Leute aus der Community, die keine Probleme haben, ihre Produkte frei zu stellen, die jedoch nachvollziehbar den Anspruch umsetzen müssen, von ihrer Tätigkeit leben zu können. Sie sind also zur Selbstverwertung gezwungen. Das funktioniert ganz gut über Auftragsarbeit zur Herstellung Freier Software, womit dann wenigstens das Produkt frei ist (gewährleistet durch die Freie Lizenz). Aber eben nicht mehr der Prozess der Herstellung selbst – hier herrscht Entfremdung durch den Zwang, die eigene Tätigkeit durch das Nadelöhr der Wertform zu schicken. Daher auch die Unterscheidung von einfach und doppelt Freier Software (siehe das Papier mit Stefan Merten137).

Der Ansatz von „New Work“ nun scheint auf den ersten Blick ähnliches zu wollen.138 Gerade bei Bergmann gibt es kein Bewusstsein über die Notwendigkeit einer Separation von der Verwertungslogik. Die Beispiele, die ich kenne, laufen am Ende auf eine Reintegration der „Arbeit“ in die Wertform hinaus, die unter normalen Verwertungsbedingungen keine Geltung mehr erreichen kann, weil sie einfach nicht konkurrenzfähig ist. Wenn sich letztlich auch „New Work“ rechnen muss, dann kann man nicht sagen, dass es sich um eine grundsätzliche Alternative zur Verwertungslogik handelt. Du merkst, dass ich eine große Skepsis hege. Das Interessante bei der Freien Software ist gerade, dass es zum Mitmachen kein bestimmtes Bewusstsein als Einstiegsbedingung geben muss. Bei „New Work“ und anderen Ansätzen wäre aber genau ein Bewusstsein darüber, dass eine Trennung von der Verwertungslogik erforderlich ist, die Voraussetzung. Die Frage könnte hier sein, ob es gelingen kann, einen wertfreien Binnenraum in und zwischen den Projekten zu schaffen, während es definierte, sehr schmale Wertbeziehungen zur umgebenden warenförmigen Außenwelt gibt. Nur wenn die Verwertungslogik nicht mehr zum Tragen kommt, kann sich auch ein anderes Bewusstsein entwickeln. Letztlich kann es nur so herum gehen: Das Sein, also die Praxis, bestimmt das Bewusstsein – und nicht umgekehrt.

Implizit hat die Freie Software die Trennung von wertfreiem Binnenraum im Meer der dominanten Wertverhältnisse erzeugt – ohne vorher einen Plan davon gehabt zu haben. Kann dieses Modell verallgemeinert werden? Theoretisch schon, es gibt jedoch eine gigantische Hürde: die Transaktionskosten. Nehmen wir an, High- und Low-Tech-Kooperativen verabreden, bestimmte Produkte, die überschüssig vorhanden sind, kostenlos herzugeben. Wie kommen diese an die anderen Orte? Bei Software ist das kein großes Thema, da die Download-Kosten minimal sind (gleichwohl auch aufgebracht werden müssen). Das bedeutet, dass es vielleicht wertfreie Inseln im Meer der Verwertungslogik geben kann, diese schaffen es aber nicht, ihre physische Unmittelbarkeit, ihren Status als personal-unmittelbare Kooperation zu überschreiten.

Weitere Frage: Wie können potenziell neue Vergesellschaftungsformen für jene attraktiv werden, die zwar subjektiv die Anforderungen der Selbst/Verwertung zu erfüllen trachten, es aber objektiv gar nicht mehr können? Da die Sphäre der realen Produktion von Wertsubstanz kleiner wird, werden immer mehr Menschen in die Distributionssphäre verwiesen. Es entsteht ein zunehmend großer werdendes Heer von Kleinhändlern, Kleinstunternehmern und Straßenverkäufern, die vom Standpunkt gelingender Verwertung längst Ausschuss sind – nicht zu reden von den (noch) alimentierten Arbeitslosen. Wie können jene unglaublichen produktiven Potenzen genutzt werden? In Argentinien und Venezuela besetzen sie Fabriken und sind dann stolz darauf, dass sie produktiver arbeiten und mehr Gewinn machen als unter korrupter Patronage – das ist jedoch keine Emanzipation, sondern geradezu die Verinnerlichung der Verwertungslogik.

Nun zur Knappheit. Ich fühle mit aufgefordert, den Begriff der „Knappheit als soziale Form“ zu erläutern – die entsprechende Passage in dem Artikel mit Stefan Merten kam inhaltlich von mir. Dort wird unterschieden zwischen Vorkommen, Begrenzung und Knappheit. Das Vorkommen thematisiert die objektiven Fakten, zum Beispiel die naturalen Grundlagen. Bei Begrenzung kommen die Bedürfnisse ins Spiel. Was gesellschaftlich nicht gewollt wird, ist auch nicht begrenzt – völlig egal, wie selten oder reichhaltig es da ist. Was gewollt wird, kann begrenzt vorhanden sein, es kann sein, dass es nicht für alle reicht. Zwei Möglichkeiten des Umgangs mit Begrenzungen gibt es: Die Grenzen werden verschoben oder abgeschafft: Es wird mehr vom Gewollten hergestellt. Oder das Wollen wird eingeschränkt: Es wird verzichtet.

Das sprichst du in deinem Artikel an: Nicht alles, was gewollt wird, kann beliebig herangeschafft werden – die Folgen können gravierend sein, der Aufwand kann zu groß sein etc. Du verwendest hierfür den Begriff Knappheit, wie er in der bürgerlichen Ökonomie üblich ist. Knappheit ist definitorisch die Grundlage der Marktwirtschaft, der Volkswirtschaftslehre: „Wirtschaften ist Umgang mit knappen Gütern“. Das – so meine Kritik – halte ich für eine Verkehrung der Tatsachen und für eine Ontologisierung. Knappheit ist nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis des Wirtschaftens in Warengesellschaften. Richtig müsste es heißen: „Wirtschaften ist Umgang mit begrenzten Gütern“. Knapp werden die Güter erst, wenn sie Warenform erhalten, weil Waren nicht frei verfügbar sein dürfen, um ihren Warencharakter zu erhalten. Meines Erachtens spricht schon der Augenschein ganz deutlich dafür: Sehr viele Güter sind reichlich und überreichlich vorhanden, sie können jedoch nicht einfach verteilt werden. Sie müssen also „knapp“ gemacht werden, künstlich mit der Warenform auch die soziale Form der Knappheit aufgeprägt bekommen. Geradezu paradigmatisch ist der Bereich der immateriellen Güter wie der der Software.

Nun kannst du natürlich einwenden, dass sich um eine bloße Wortersetzung handelt, wenn man von „begrenzt“ statt „knapp“ spricht. Das träfe aber nur zu, wenn es keinen Unterschied gäbe. Den Unterschied aufrecht zu erhalten, bedeutet darauf zu bestehen, dass es andere als Knappheit erzeugende Formen des Umgangs mit Begrenzungen gibt oder geben kann. Der Nachweis ist mit der Freien Software erbracht, der Beweis im Bereich der stofflichen Güter steht aus. Ist dieser Beweis nicht zu erbringen, ist auch Kommunismus ist nicht möglich. Ich würde das nicht schreiben, wenn ich nicht sehr sicher wäre, dass es eine Weise des „unknappen“ Umgangs mit Begrenzungen von Gütern und Ressourcen geben könnte.

Nun schreibst du: „Alle Güter oder Ressourcen lassen sich nicht in unbegrenzten Mengen produzieren.“ Das ist als quantitative Aussage verstanden zweifellos richtig. Ich denke, dass die Frage jedoch gar nicht ansteht, etwas in unbegrenzten Mengen zu produzieren. Hier gilt es mehrere Argumente mit einzubeziehen.

Maßstab kommunistischer Produktion sind die Bedürfnisse. Wenn etwas ausreichend für alle, die es wollen, vorhanden ist, dann ist genug genug. Das gilt nicht für die Warenproduktion mit ihrem immanenten Wachstumszwang, da es hier einen hier keine Grenze der Expansion gibt. Werbung, Schaffung von Kompensationsbedürfnissen etc. dient dazu, das „genug“ zu verhindern oder mindestens zu verschieben.

Was aber ist, wenn auch in einer freien Gesellschaft die Bedürfnisse größer als die Vorkommen sind? Wichtige Eigenschaft einer freien Gesellschaft ist die Wiederherstellung des Zusammenhangs der in der Warengesellschaft partialisierten und isolierten Bedürfnisse der atomisierten Individuen. In der Warengesellschaft ist der Zusammenhang zwischen der Realisierung eines Bedürfnisses und seinen Folgen, also den Auswirkungen auf andere Bedürfnisse völlig zerrissen (in vormodernen Gesellschaften gab es den noch). Ich befriedige ein Bedürfnis vermittels eines Abstraktums (das Geld) durch Kauf eines Produkts (oder einer Dienstleistung), das aufgrund seiner Form keinen Bezug mehr zu anderen Produkten (oder Dienstleistungen) hat. Zurecht nennst du in deinem Text die „Concorde“ (die es nun nicht mehr gibt) als Quelle von Armut – eben aufgrund dieses zerrissenen Zusammenhangs. Es ist jedoch nicht nur der Zusammenhang zerrissen, sondern häufig auch personal unterschiedlich verteilt: die „Concorde“ für die Einen und die Armut für die Anderen. Aber oft sind die Menschen sogar selbst von ihren eigenen Handlungen betroffen und sind trotzdem nicht in der Lage, das zu sehen und den Zusammenhang wenigstens denkend herzustellen.

Ist der Zusammenhang von Handlungen und Folgen, von Produktion und Ressourcen, von Nutzen und Schaden transparent, dann fließt das in die Frage mit ein, welche Bedürfnisse ich angesichts der Abwägung der Möglichkeiten und Risiken befriedigt sehen will, welche ich aufschiebe und auf welche ich ganz verzichte – kurz: was gesellschaftlich als Reichtum gilt. Dann, und meiner Meinung nach nur dann, kann der von dir formulierte Imperativ realisiert werden: „Allein das verdient gesellschaftlich produziert zu werden, was einen jeden auch dann etwas Gutes bleibt, wenn alle in dessen Genuss kommen“ (ein sehr schöner Satz!).

Lieber André, ich habe dieses Mal viel zu viel geschrieben, ich hoffe, ich langweile dich nicht. Für mich war es sehr anregend, über einige Fragen nachzudenken. Andere Fragen (die nach den Gefahren für die Freie Softwarebewegung) habe ich ausgelassen.

Ich wünsche dir Glück und Gesundheit,
– bis zum nächsten Mal!

(Stefan)


135 „… eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Manifest der Kommunistischen Partei).

136 Die „Ich-AG“ entstammt den nach dem VW-Manager Peter Hartz genannten „Hartz-Reformen“ von 2003 unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder. Sie bezeichnet ein Einzelunternehmen, das von einem Arbeitslosen gegründet wurde.

137 Vgl. Stefan Merten und Stefan Meretz 2005.

138 „New Work“ (dt. „Neue Arbeit“) ist ein Konzept von Frithjof Bergmann, bei dem Kreativität und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Zentrum von Arbeit stehen, was die „knechtende Lohnarbeit“ beenden solle. Besonders durch Einsatz von mikroelektronischer Technologie soll eine weitgehende Selbstversorgung erreicht werden („High Tech Self Providing“). Die Warenform wird nicht in Frage gestellt. Vgl. auch Fußnote 111.

Veröffentlicht in Briefe