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15.–21.03.2007: André Gorz an Stefan Meretz

15/21.3.07

Lieber Stefan,

Dein Brief vom 25.2. hat mich aus mehreren Gründen gefreut. I. In den Tagen bevor ich ihn erhielt, habe ich mich gefragt, ob wir uns je sehen werden. Nun, wir hatten sichtlich den gleichen Wunsch. Wie schön. Aber es ist zu früh – oder zu spät. Meine Frau (sie heißt Dorine, kurz D.) und ich sind weiter in schlechter Verfassung, stets und von allem, auch Kleinigkeiten, überfordert. Wir planen Ende April oder Anfang Mai (das hängt vom Zahnarzt ab, bei dem D. seit Wochen in Behandlung ist) wegzufahren, in die Schweiz wo die guten Hotels billiger sind (unseres hat ein großes Thermalwasserschwimmbad). Der altersbedingte Verfall nimmt rapide zu. Ich denke immer wieder an den Alten Marcuse, der sich nicht mehr traute, allein mit den anderen zu sprechen und im Verlauf des Gesprächs sich immer wieder leise an mich wendete: „Is it alright?“ Er fürchtete sich, Unsinn zu sagen.

Nun zurück zu deinem reichhaltigen Brief. Die neue, endgültige Fassung deines Essays über Knappheit würde ich gern lesen. Dass Waren „knapp“ sein müssen, um einen Tauschwert zu behalten, ist mir schon seit langem klar. Die ständige Innovation ihrer Erscheinungsformen hat ja die Reproduktion ihrer Knappheit zum Zweck – Illich nannte sie „die Modernisierung der Armut“: Es muss immer so sein, dass von den „besten“ Waren nicht genug für alle da ist, dass breite Schichten vom „Guten“ ausgeschlossen sind und sich minderwertig fühlen sollen, wenn sie sich nicht („noch nicht“) leisten können, was als „gut“ gilt. Aber andererseits gibt es diese „anthropologische“ Knappheit, dass Bevölkerungen aus von ihnen unkontrollierbaren Gründen an Hungersnot leiden oder zu leiden bedroht sich und in Abwesenheit einer egalitären [gesellschaftlichen Verteilung oder Zugänglichkeit](1) lebensnotwendiger Güter, diese von einer herrschenden Schicht beschlagnahmt oder zu Herrschaftszwecken verknappt werden. So weit sind „wir“ auch. Den Begriff „Knappheit“ gab es im primitiven Kommunismus (wahrscheinlich) nicht. Er erschien (wahrscheinlich) erst mit der Sesshaftigkeit, mit der Agrikultur, dem Besitz von Land und Ernten, den Städten, dem Handel, kurz den „großen“ Gesellschaften. S. Marshall Sahlins‘ Stone Age Economics.148

Aber das sind nur Nebenbemerkungen.

Auf Grund deiner Ausführungen über Universalgüter (auf französisch „Gemeingüter der Menschheit“) und deinen wert- und arbeitstheoretischen Überlegungen hab ich unseren allerersten Briefwechsel (Okt./Nov. 2003) wiedergelesen, sowie deine Diskussion mit Ernst Lohoff in den Streifzügen 3/2002 S. 31-32 und 2/2003 S. 44-45, die ich damals nicht kannte.149 Meine Antwort auf deine Frage (ob Wissensarbeit wertproduktiv oder von der Wertmasse zehrend sei) war natürlich falsch: ich macht keine Unterscheidung zwischen produktiv und wertproduktiv (Negri und sein Anhänger machen auch keine). Meine jetzige Antwort wäre, dass sie zur Wertschöpfung beiträgt, insofern sie betriebswirtschaftlich finanziert und angeeignet (privatisiert) wird, aber auf alle Fälle gesamtwirtschaftlich Wert zerstört, insofern sie Arbeit(szeit) einspart. Wenn betriebswirtschaftlich entgolten kann sie als Schöpfung von capital fixe angesehen werden. Wenn nicht zehrt sie von der Wertmasse, kann zu den „faux frais“ gehörend angesehen werden, ist keine Wertschöpfung, keine ordinäre Arbeit, oft eine Externalität.

Nun hab ich noch nicht genügend unterschieden zwischen Informations- oder Wissensarbeit, die als betrieblich entgoltene warenförmig und u.U. wertschöpfend sein kann oder aber als allgemeine Arbeit wertlos, einerseits, und andererseits dem Resultat von Wissensarbeit, das als privatisiertes betriebliches capital fixe und als Allgemeingut Externalität sein kann.

Ist das O.K.?

Zum Thema „Allgemeinarbeit“ (Lohoff sagt auch „gesellschaftliche Arbeit“) kenn ich nur die Seiten 908-911 der Grundrisse. Kurze Definition S. 908: Das Individuum „bewährt seine private Arbeit als allgemeine Arbeit und ihr Produkt als allgemeines gesellschaftliches Produkt“ (…) „dadurch, dass seine Arbeit eine Besonderheit in der Totalität der gesellschaftlichen Arbeit, ein besonders sie ergänzender Zweig. Sobald die Arbeit einen durch den gesellschaftlichen Zusammenhang bestimmten Inhalt besitzt (…) gilt sie als allgemeine Arbeit.“150

Alle allgemeine Arbeit erzeugt nicht Allgemeingüter, aber alle Allgemeingüter, Alltagskultur, Allgemeinwissen, „die allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes“ sind durch Allgemeine Arbeit hervorgebracht, entwickelt. Diese ist die „unsichtbare“, unverrechnete „Arbeit“, die die Voraussetzung der Produktion (ob Waren produzierend oder nicht) ist. S. diesbezüglich Fußnote 48 in WWK151 (S. 128). Allgemeine Arbeit, würde ich sagen, wird von jedem/r als eine(r) von Allen im Bezug zu, dem Verkehr mit Allen gesagt. Das Resultat ist unteilbar, untauschbar usw.

Was mich ermutigt ist, dass du in WWK S. 33 einen Ansatz deiner Überlegungen und Entdeckung (nämlich der „Produktion“ von Nichtwaren innerhalb der Warenproduktion, und nicht nur innerhalb: sogar als deren notwendige Voraussetzung) gefunden hast. Bei genauer Untersuchung fand ich auf S. 61-64 (insbesondere 62 und 63) einen Versuch, dieses Thema etwas weiterzuentwickeln. S. auch S. 77 oben, (75-77) mit einem Zitat von dir. Du hast eigentlich diesmal deine eigenen früheren Entdeckungen neu entdeckt, in einem weiter gespannten Zusammenhang. Ich bin gespannt zu erfahren, wohin du das weiterentwickeln wirst.

Dein zusammen mit Stefan Merten verfasster Beitrag zum Open Source Jahrbuch 2005 hat mich sehr interessiert. Besonders den Hinweis, am Ende, auf die digital fabricators. Über die kann man Dutzende von Seiten im Internet finden (das ich bei unserer Nachbarin „befragte“) und habe dadurch endlich verstanden, wovon Bergmann, mit seinen „personal fabricators“ und high-tech Selbstversorgungs-Einrichtungen redet. Bergmann ist, zugegeben, unseriös, oft verschwommen, naiv, man weiß nie, was er wirklich tut und was Schwätzerei ist, er gibt sich als einen typisch amerikanischen Pragmatiker und schreibt (wahrscheinlich diktiert er) in „basic english“ in einem Allen zugänglichen Still mit viel Wiederholungen – aber trotz seiner Schwächen mag ich es, er stösst nicht nur offene Türen und Fenster auf und kann plötzlich ganz radikal werden, obwohl er politisch und theoretisch ungebildet ist. Das Gespräch, das Franz Nahrada über sein Buch mit Andreas Exner geführt hat, und der Artikel, denn Nahrada dann für die Schweizer Zeitschrift Widerspruch geschrieben hat (das war eine Idee von mir, die Zeitschrift dafür zu gewinnen), haben das Wichtigste schön herausgearbeitet und vorgestellt. Exner wollte von mir einen Beitrag für den Sammelband über Grundeinkommen, den er zusammenstellt. In dem Beitrag hab ich mich von der Grundeinkommenidee endgültig kritisch getrennt.152 (Das war am Ende des 3. Kapitels von WWK ein schon im Grunde vollzogene Trennung. Exner hatte das bemerkt.) Da er sich in den Streifzügen auf Rob. Kurz Beitrag in Krisis 19153 bezog, hab ich ihn um dieses Heft gebeten. Ich finde Kurz‘ Beitrag geradezu befreiend und bezog mich auf ihn (sowie auf die S. 471-472 des Weltkapital) in einer längeren franz. Version des deutschen Artikels. Er hat mich von der Angst befreit, gleich wieder als Vertreter einer dualistischen (dualen) Wirtschaft zu gelten, wenn ich Sektoren (natürlich nicht Sektoren der Gesamtwirtschaft) der Wert-Warenlogik zu entziehen für möglich halte – ein Entzug der natürlich konfliktuell verlaufen muss. Diese zwei Beiträge (resp. 8 und 17 Seiten) zu schreiben hab ich 5 oder 6 Monate gebraucht, immer wieder neu angefangen und neu redigieren müssen, was D. und mich verrückt und unglücklich machte.

Ich weiß schon seit Jahren, dass ich es aufgeben sollte, denn alles wird immer mühsamer und schlechter als früher. Immerhin, im franz. Beitrag wollte ich wieder auf Postone, Kurz und dich hinweisen, um auf die Notwendigkeit von Übersetzungen zu drängen. Und meinen lieben Freund Henning Bark, der für 3Sat tätig ist und dem gerade eine Serie von Kurzfilmen zum Thema „Wollt ihr den totalen Markt?“ von seinen neuen „Vorgesetzten“ zensuriert wurde, habe ich dazu bewegen können, eine Reportage über Nahrada und das Projekt Global Village (den langen Utopie kreativ Artikel Nahradas: Globale Dörfer und Freie Software hast du mir vor ca. 3 Jahren geschickt, und ich bemerkte gleich, dass Nahrada das Projekt Bergmann radikal weiterdenkt) zu machen. 3Sat hat das bewilligt, er war letzte Woche mehrere Tage in Wien. Das freut mich richtig.

Lieber Stefan, ich weiß nicht ob du das kleine Häuflein von Kurzianern und Postonians in Frankreich kennst: Galtier, Mercier, Kukulies und Anselm Jappe (der in Livorno lehrt). Wenn nicht, kann ich dir die Anschriften geben.(2) Sie haben scheinbar für Kurz und Exit Partei ergriffen, aber das sollte kein Hindernis sein. Über die Gründe der Krisis-Spaltung kann ich nur raten; und frage mich, ob nicht etwa Kurz‘ leidenschaftliche Verteidigung des Finanzkapitals gegen den „strukturellen Antisemitismus“ (mit)gespielt haben.

Darüber hätte ich mit dir gerne geredet. Und auch über deine Pläne, dein „Arbeits“programm für die 5½ nächsten Jahre. Aber vielleicht können wir uns weiter brieflich unterhalten darüber.

Alles Liebe.

André.


(1) Nein: Vergemeinschaftung, die alle Güter als Allgemeingüter behandelt,

(2) Sie haben mir vor ca. 3 Jahren eine Begegnung vorgeschlagen. Ich habe auf ihren Vorschlag nicht geantwortet. Sie erwarteten sicher eine Zusammenarbeit oder Unterstützung für gemeinsame Projekte von mir. Ich fühlte mich schon damals nicht ganz auf der Höhe und hatte Angst, sie nur zu enttäuschen.


148 Marshall Sahlins (*1930), US-amerikanischer Anthropologe, vgl. Sahlins 1972.

149 Vgl. Ernst Lohoff 2002 und Stefan Meretz 2003c.

150 Gorz bezieht sich hier auf einen Anhang der Grundrisse (vgl. Marx 1974), der in der Ausgabe der MEW 42 (vgl. Marx 1983) nicht enthalten ist. Der Abschnitt auf S. 908 lautet: „Wodurch bewährt das Individuum seine Privatarbeit als allgemeine Arbeit und ihr Produkt als allgemeines gesellschaftliches Produkt? Durch den besondren Inhalt seiner Arbeit, ihren besondren Gebrauchswert, die Gegenstand des Bedürfnis[ses] eines andren Individuums ist, so dass letztres sein eignes Produkt abläßt dagegen als Äquivalent. […] Also dadurch, dass seine Arbeit eine Besonderheit in der Totalität der gesellschaftlichen Arbeit, ein besonders sie ergänzender Zweig. Sobald die Arbeit einen durch den gesellschaftlichen Zusammenhang bestimmten Inhalt besitzt, – dies ist die stoffliche Bestimmtheit und Voraussetzung – gilt sie als allgemeine Arbeit.“

151 WWK = Wissen, Wert und Kapital, vgl. Gorz 2004,

152 Vgl. André Gorz 2007a.

153 Vgl. Robert Kurz 1997.

Veröffentlicht in Briefe