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13.–19.08.2007: André Gorz an Stefan Meretz

13-19.8.07

Lieber Stefan,

unsere Korrespondenz dauert schon beinahe vier Jahre und ich habe nur einen Freund, mit dem ich einen längeren ebenso reichhaltigen Briefwechsel unterhalten habe. Ich schreibe Dir das als Antwort auf Deinen Brief vom 30.6. Die (briefliche) Begegnung mit Dir war ein Wendepunkt in meinem Denken. Ich verdanke Dir die Entdeckung von Postone, von Kurz und anderen Wertkritischen, von den Streifzügen und die Beziehung zu Franz Schandl. Die Texte, die Du mir schickst – besonders Deine – und die behutsam kritischen Bemerkungen zu meinen Überlegungen oder Fragestellungen sind immer für mich wichtige Anhaltspunkte und Auslöser meines Weiterdenkens. Also habe ich alle Gründe „mich privilegiert zu fühlen“ (wie Du, im 1. Absatz Deines Briefes, es wendest).

Nicht weil ich ein umworbener (wie Du glaubst) Autor bin brauche ich manchmal (auch diesmal) lange, bevor ich Dir zurückschreibe. Von April bis Juni ging es uns gesundheitlich schlechter als je zuvor. Hauptsächlich D. (Dorine), die an unerklärlichen Schmerzen litt, schließlich überhaupt nichts mehr zu sich nehmen konnte und am Ende mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus kam wo, arg verspätet, ein Darmverschluss erkannt und sogleich operiert wurde. Das war am 14. Mai. Ich hatte wie eine Vorahnung, dass uns etwas Schlimmes bevorstand, als ich im April Deinen Besuch für „zu früh oder zu spät“ hielt. Um sich von einer derartigen Operation zu erholen, braucht es mindestens 3 Monate und die postoperativen Schmerzen sind schwer erträglich. Jetzt geht es uns jeden Tag ein wenig besser, nur bleibt noch eine erdrückende Müdigkeit über.

Da die „Streifzüge“ den „Brief an D“ erwähnen, möchte ich Dir einiges dazu erklären. Der Brief ist nicht zum Zweck seiner buchförmigen Veröffentlichung geschrieben worden. Was ich in ihm sage konnte ich allein ihr, für sie, sagen. Und da er eine verspätete Huldigung, Richtigstellung, Anerkennung ist und eine lange Liebesbeziehung in seiner Dauer, Entwicklung und Transformation darstellen will, wollte ich dass er in ein paar hundert Exemplaren gedruckt werde. Ich bot meinem Freund und Verleger an, die Spesen zu übernehmen und verzichtete im Voraus auf die üblichen Royalties.

Nun, zu unserer Überraschung wurde aus dem „Brief“ eine Art Bestseller (bisher >30000 Ex. verkauft), der meinem Verleger grössere Sorgen ersparte und die meisten Leser etwas mitempfinden lässt, das sie zu erleben sich sehnen. Plötzlich hatte ich außer den ca. 3-8000 üblichen Lesern bis zu zehn mal mehr und zwar nicht als Autor, sondern als gewöhnlicher Mensch, der etwas sagen wollte, das bloß mit der Wichtigkeit von Empfindungsvermögen und Liebesbeziehung für den Sinn des Lebens zu tun hat. Ich tue mein Bestes, um zu vermeiden, dass die Medien mich zum Verkäufer-Vermarkter meiner Selbst machen. Zugleich wünsche ich aber dem Rotpunktverlag und besonders Andreas Simmen viel Erfolg mit diesem Brief, denn er war der Einzige, der WWu.K zu verlegen bereit war und hat damit, geldlich, nichts verdient.

Der „Brief“, bzw. die mediale Aufmerksamkeit, die er erregte, hat mich der Vergessenheit entzogen, in die meine früheren Schriften gefallen waren. Relativ viele haben entdeckt, entweder dass ich noch nicht tot war, oder dass ich zum kritischen Selbstverständnis dieser Epoche beigetragen habe. Nur fühle ich mich nicht mehr ganz auf der Höhe.

Nun zurück zu Deinem Brief und Deinem Krisis-Beitrag. Er hat mich begeistert. Krisis 31 ist erst gestern hier angekommen, ich bin Dir dankbar, ihn schon vor dem Erscheinen mehrmals gelesen zu haben.

Zuerst möchte ich aber etwas herumargumentieren. S. 62 und 72 (s. auch 86(1)) stoße ich auf ein semantisches Problem. „Prinzipiell ist jede Knappheit künstlich“ schreibst Du. Und S. 72: „Wenn etwas nicht ausreicht ist es nicht „knapp“ sondern … begrenzt, fehlt oder wird dringend gewünscht.“ Auf Waren bezogen ist das unbestreitbar. Ökonomisches „Wachstum“ beruht im Kapitalismus auf der Erfindung immer neuer Knappheiten (Illich nannte das „Modernisierung der Armut“). In Deinem Essay, geht es aber nicht nur um Waren: Deine These führt zum Schluss, dass alle Knappheit durch die gesellschaftliche In-Betracht-Nahme von natürlichen Begrenztheiten vermieden werden kann, nein? Da frage ich mich, ob „Knappheit“ nicht einen unübersetzbaren Sinn hat, den ich nicht ganz verstehe. Im Englischen haben wir „scarcities“ und „shortages“. Die ersteren bezeichnen natürliche Begrenztheit,(2) die letzteren deren gesellschaftliche Auswirkung in der Form „es ist für alle nicht ausreichend da“. Die Kriegswirtschaft war durch „shortages“ geprägt, die gesellschaftlich durch Rationierung (Lebensmittelmarken) verwaltet wurden. Die den shortages zugrunde liegenden scarcities zu beseitigen war unter den historischen Umständen nicht möglich. Absolut unmöglich ist dies wenn die scarcities durch Dürre, Überschwemmungen, Verschwinden z.B. des Tschadsees oder Absinken des Grundwasserspiegels oder Heuschrecken, also Naturkatastrophen hervorgerufen ist. Wie soll man die sich daraus ergebenden shortages nennen? Im Französischen spricht man von „rareté“ (scarcity) und „pénurie“ (shortage). In Sartres Ontologie spielt scarcity eine grundlegende Rolle: Sie bezeichnet die Tatsache, dass „das Leben auf Erden unwahrscheinlich“ ist, dass es ständig bedroht bleibt, was immer auch der gesellschaftliche Umgang mit Begrenztheiten sein möge. Das Faktum der (drohenden) scarcities bedeutet, dass es „nicht genug für alle“ geben kann, d.h. Das ein(e) jede(r) ein Überzähliger zu werden droht. Die „Serialität“ hat in diesem Umstand ihren Ursprung, und Vergesellschaftung des Umgangs mit Begrenztheiten oder den Folgen von unvorhersehbaren Katastrophen ist deren (der Serialität) Überwindung. Überwindung der Serialität führt aber nicht automatisch zur Überwindung der shortages. „Das gesellschaftliche Herstellen von Lebensbedingungen ist der kumulierende Umgang mit Begrenzungen“, schreibst Du. Wie aber nennt man die trotzdem bleibenden „shortages“?

Es gibt sicher eine befriedigende Antwort auf diese Frage. Ich werfe sie auf, weil mir sprachliche Diskussionen Spaß machen und bin im übrigen mit Deinen Ausführungen ganz einverstanden. Als ich Dir schrieb (Du hast diesen Satz aufgegriffen und in Frage gestellt) dass „alle allgemeine Arbeit nicht Allgemeingüter“ erzeugt, meinte ich im Grunde dasselbe als Deine Bemerkungen S. 62 und 73: „Privatisierte Universalgüter sind äußerlich in Warenform gebrachte Güter, die gleichwohl ihren Universalcharakter nicht verlieren.“ S. 73: die Warenform ist eine „additiv hinzugefügte Hülle, die der Universalität des stofflichen Guts nichts anhaben kann“. Nun meine ich doch, dass die warenförmige Hülle in einem Zug mit dem (Universal)Gut erzeugt werden kann, und dessen Universalcharakter nicht zum Ausdruck kommen lässt. Das als Privatgut mitsamt seinem Patent oder seiner Verschlüsselung erzeugte (Universal)Gut „gilt“ als Ware und ist zum Zweck seiner Vermarktung erzeugt; sein Universalcharakter existiert „an sich“ und muss durch kritische Analytik zum (allgemeinen) Bewusstsein gebracht werden. Wenn dem nicht so wäre, wären Deine Ausführungen nicht nötig. Sie sind sehr wichtig (auch für mich) und bedeutsam weil es diese Ent-Deckung des Universalcharakter braucht, um ihn zur Geltung zu bringen. Aber da sind wir uns ja einig.(3)

Begeistert, wie gesagt, war ich von Deinen Ausführungen S. 80-85, insbesondere dem Schluss: „Der nach [freier] Software und [freier] Kultur logisch dritte Schritt ist die Freie Produktion gesellschaftlichen Lebens im umfassenden Sinne“. Das bedeutet eigentlich, dass der logisch nächste Schritt den zum Allgemeingut verwandelten Produktionsmitteln gelten sollte; was mich zur Wichtigkeit des Fabbers zurückbringt, auf den Dein Beitrag im Open Source Jahrbuch 2005 mich aufmerksam gemacht hat. Wieso kümmert sich scheinbar niemand um diesen technischen Durchbruch und seine potenziellen gesellschaftlichen Wirkungen als Ermöglichung nicht mehr warenförmiger Reproduktion, anders gesagt der Selbstversorgung mit womöglich global vernetzten lokalen Fertigungseinrichtungen?

Das ist seit bereits 35 Jahren mein „Steckenpferd“. Selbstbestimmung der Bedürfnisse und Selbstbegrenzung des Konsums und der „Arbeit“ haben ja die Aufhebung der Waren- und Marktbeziehungen zur Voraussetzung, sowie die Aufhebung der Trennung von Konsumenten und Produzenten als welche sich die gegen sich selbst gespaltenen Individuen selbst bekämpfen. Vor 4 Jahren hast Du mir nebst dem Postone und einer Nummer der Streifzüge auch ein paar Krisis-Hefte geschickt, darunter die Nr. 15. Ich habe kürzlich in ihr den Beitrag von Norbert Trenkle wiedergelesen.159 Dort geht es (S. 22 und 84) um die „Aufhebung der Warenform im Makro- wie im Mikrobereich“ und um „kleine Multifunktionsfabriken“ (Bergmann lässt grüßen), sowie um die „Beiträge des Krisis-Seminars vom Dez. 1994“, deren Veröffentlichung eine „kontroverse Debatte zur „Aufhebungs- und Praxisfrage“ einleiten sollte. Die scheint nicht stattgefunden zu haben, auch ihre Veröffentlichung nicht (allein in der seit langem vergriffenen Nr. 18 scheint N. Trenkle das Thema wieder behandelt zu haben.160 Lieber Stefan, wenn – nur wenn – er etwas Neues bringt, könntest Du mir eine Kopie dieses Trenkle-Beitrags anfertigen?) Du kommst selbst auf die Wichtigkeit einer „warenkritischen Praxis“ zurück und belegst, dass das Nichtwarenförmige sich an sich ausbreitet, einer Dynamik entspricht, die im Bereich der Software und der Kultur durch keine Gegenmaßnahmen aufzuhalten ist; dass also das Potential besteht und durch die theoretische und praktische Entwicklung „eigener Denkformen“ in Bewegung umgesetzt, zur „Konstitution“ einer „neuen Welt“ als Ausgangspunkt dienen kann. Besonders interessant und erfreulich fand ich natürlich was Du S. 83-84 über Brasilien und die neuen Kooperativen schreibst, mit einem Zitat von Prado.

In den letzten Jahren habe ich öfters „wertkritische“ Veröffentlichungen, Postone und Oekonux (und Dich) zitiert, was ein paar Freunde neugierig im Internet Oekonux suchen ließ. Sie fanden, sagten sie mir, keine neuen Einträge und substanziellen Vorstellungen, und alles nur auf deutsch, was sie schließen ließ, dass die Gruppe nicht aktiv und lebendig sein dürfte. S. 73 Deines Krisis-Beitrags finde ich jetzt den Hinweis auf das Oekonux-Projekt 2004. Solange „eure“ Arbeit nur auf deutsch zugänglich ist kann es zu keiner internationalen Zusammenarbeit und Diskussion kommen. Die Stärke von Negri ist, dass seine Anhänger vielsprachig sind und sich auf englisch untereinander verständigen können, ihre Veröffentlichungen in ihren Zeitschriften oder Bulletins übernehmen. In Frankreich gibt es, soviel ich weiß, ganze 5 Leute die sich als „Wertkritische“ definieren (Anselm Jappe ist einer, Gérard Briche ein anderer) und jetzt versuchen, eine offene, zu Debatten bereite Zeitschrift zu gründen. Die Negristen „beherrschen das Feld“ (wie man auf englisch) sagt. Yann Moulier Boutang ist ihre führende Persönlichkeit, seine Zeitschrift Multitude ist sehr attraktiv und vielseitig. Der „cognitive Kapitalismus“ ist seine Erfindung, von einer Gruppe franz. und italienischer Akademikern vertreten. Er war mein Ausgangspunkt: W.W.K, war ein Versuch, den „cognitiven Kapitalismus“ zu hinterfragen und einer Kritik zu unterziehen. Ich hatte damals keine theoretischen Stützpunkte für eine regelrechte Kritik, außer „gesunden Menschenverstand“ (common sense), was die Ungereimtheiten und Schwächen (manchmal Dummheiten) des Essays erklärt. Du machst mich S. 3 Absatz 3 Deines Briefes auf einige dieser Ungereimtheiten aufmerksam. Mit dem von Dir zitierten Satz S. 62 meinte ich „einfach“ dass es im Kapitalismus instrumentalisierbares und privatisierbares (schein)warenförmiges Wissen gibt und solches, dass zu nichts dient aber für ein sinnvolles Leben unabdingbar ist. Deine (in Deinem Brief vom 25.2.) Ausführung über „privatisiertes Gemeingut“ und privatisierte allgemeine Arbeit hatte ich sichtlich in ihrer Tragweite nicht richtig verarbeitet. Wenn ich von der „Verwertung von Wertlosem“ (wie Du es ausdrückst) rede, meine ich (wie es in der Umgangssprache üblich ist) die Vergeldlichung von Scheinwaren, die, wie Du es nach Lohoff verstehst, kein Verkauf ist, nur eine, sagen wir, „Nutzungsrente“. Diese findet man auch in der Form von Zugangsrechten zu natürlichen Ressourcen.

Lohoffs Beitrag im Krisis-Heft161 enthält vieles, das ich noch nicht ganz verdaut habe. Für Deine Zusammenfassung seiner Analyse (oder Teilen von ihr) bin ich sehr dankbar. Ich bin auf diesen (und anderen) Gebiet(en) nicht „auf der Höhe“. Bei Dir habe ich schon viel gelernt, aber um meine Verspätung aufzuholen ist es zu spät.

Worauf ich hinaus wollte: Bist Du und sind andere Oekonuxer in Verbindung mit ausländischen (zumindest potentiell) Gleichgesinnten? Ich lege eine Webseite bei auf deren Umseite 6 Linien (angepfeilt) diese Frage nahelegen. Habt ihr, Du und Heike, in Frankreich Freunde getroffen? Wie steht es um eure Sprachkenntnisse? (Ich frage das auch, weil Dorine nicht deutsch spricht, ich wollte nicht, dass sie es lernt; das war vor langer Zeit.) Wenn Du dazu Zeit hast, bitte lass mich wissen, welchen Eindruck Du von Frkr. hast, wo ihr wart.

So long. Liebe Grüße.

André.


(1) „Jede Knappheit … ist künstlich, weil … sie allein der historischen Sonderform der Produktion eines Guts als Ware geschuldet ist“. (S. 85/86)

(2) Von lebensnotwendigen Gütern oder Ressourcen.

(3) Ich verstehe plötzlich, warum Du dem Universalcharakter an sich solche Wichtigkeit gibst: Um bewusst geltend zu werden muss er an sich da sein. Er ist weder utopisches Ideal noch Erfindung: sein an sich sein ist der mögliche Ausgangs- und Anhaltspunkt seiner Ausweitung.


159 Vgl. Norbert Trenkle 1995.

160 Vgl. Norbert Trenkle 1996.

161 Vgl. Ernst Lohoff 2006.

Veröffentlicht in Briefe