Wien, am 23. September 2007162
Lieber André,
vielen und herzlichen Dank für Dein „Buch, das keines ist“. Das ist ein ganz besonderes Geschenk gewesen, vor allem, weil Du es mir persönlich zukommen hast lassen. – Wie aufmerksam!
Ich bin auch schon durch. Bereichernd, ja bezaubernd von dieser Eurer geglückten Beziehung und von der Kraft der Liebe zu lesen. „Für Dorine again, again and evermore“, heißt es auch in „Arbeit zwischen Misere und Utopie“. Lieben ist das Gut des Lebens, mit „kleinbürgerlich“ hat das vorerst gar nichts zu tun. Dass Ware und Wert vor nichts zurückschrecken und sich alles unterwerfen wollen, wissen wir. Aber wir wissen auch, dass jenes Gut eines der wenigen ist, das sich in seinen gelingenden Augenblicken davon befreien kann. Man darf dieses große Thema keinesfalls dem Ratzinger im Vatikan überlassen, und der ist so schlau, dass er gleich seine erste Enzyklika zu dieser eminenten Frage verfasst hat.163
Was sehr zu schätzen ist an Dir, ist auch Deine Selbstkritik, die immer wieder zu lernen und begreifen will und Dich positiv von jenen abhebt, die meinen, immer recht gehabt zu haben. Manchmal habe ich freilich auch Differenzen. Du schreibst etwa: „Das Sagen ist wichtig, nicht das Gesagte, was ich geschrieben hatte.“ Das halte ich nur für teilweise richtig. Für dich, den Sager, ist das Sagen wichtiger als das Gesagte, zweifellos, aber für das Publikum ist das Gesagte wichtiger als das Sagen. Was bei ihm ankommt, ist das, was du gegeben und geschenkt hast, eben das Resultat. So zumindest sehe ich das. Der Akt der Schöpfung und des Geschöpften oder profaner ausgedrückt, der des Werken und des Werks, der ist letztlich nicht identisch, auch wenn er es für bestimmte Momente der Schaffung gewesen sein mag.
Der Satz „Ich sagte mir, dass wir endlich unsere Gegenwart leben müssten, statt uns immer in die Zukunft zu projizieren“, ist ein ganz wichtige Erkenntnis, nicht nur betreffend Deine Frau und Dich in einer besonders prekären Lage. „Ich hatte den Eindruck, mein Leben nicht gelebt zu haben, es immer aus der Entfernung beobachtet zu haben, nur eine Seite meiner selbst entwickelt zu haben und als Person sehr arm zu sein“, schreibst Du. Auch da triffst Du nicht nur Dich, sondern einen wunden Punkt bei all den intellektuellen Linken, die ich kenne, mich natürlich eingeschlossen. Ein mentales Defizit der Linken besteht darin, vor lauter Kopf zu vergessen, dass auch wirkliches Leben im falschen ist. Soll der Morgen Morgen werden, muss von diesem Morgen so viel wie möglich in das Heute geholt werden. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich.
So ist Dein Brief an D., diese Geschichte einer Liebe unter der Hand doch zu etwas mehr geworden als er am Anfang wohl gedacht war. Doch wenn man nur einen Punkt radikal reflektiert und das heißt eben auch sich emotional zuzulassen und einzulassen, dann analysiert man schon die ganze Welt mit.
Man hat bei der Lektüre auf jeden Fall den Wunsch noch mehr wissen zu wollen, über das Österreich vor 1950, Deine Wiener Familie, von Sartre, von eurem Haus in Vosnon, von den Alltäglichkeiten bis hin zur Wahrnehmung der Welt und des Lebens. Gerne würde ich da vieles nachfragen und so hat es auch meinen Wunsch bestärkt, nach Vosnon zu fahren. Es sind knapp über 1000 km und mit dem Auto wäre es bequem zu erreichen.
Deiner Frau habe ich nichts weniger zu verdanken, als dass unser Kontakt nach der verstümmelten Rezension in der WOZ nicht abgebrochen ist. Im Winter 2004/2005, als unsere Beziehung auf der Kippe stand, hat sie ja zu Dir gesagt, ich zitiere sie aus Deinem Schreiben vom 23. Februar 2005: „Lass ihn jetzt in Ruhe, sonst hörst Du nichts mehr von ihm“, und Du hast angefügt: „Bisher hat sie in diesen Sachen immer Recht gehabt“. – Und wie sie Recht hatte! Ich danke Dorine für diese ihre Einschätzung und die gezielte Intervention. Sag es ihr bitte und mit den wärmsten Grüßen. Am 23. Oktober – ich hab mir Euren 60. Jahrestag vorgemerkt – werde ich ein Achterl eines guten Weines auf Euch trinken. Ich wünsche Deiner Frau und Dir noch viele schöne Tage.
Deine Briefe sind alle wohlbehalten in einer Mappe eingeordnet und gut aufgehoben.
Herzliche Grüße aus Wien
(Franz)
P.S.: Kannst du uns übrigens ein Foto von Dir schicken? Wir bräuchten es für unsere Homepage.
P.P.S.: Ich hoffe, die neue krisis (Ausgabe 31) ist bei Dir angekommen. Wenn nicht, bitte sagen, damit ich es veranlassen kann.
P.P.P.S.: In den obigen Brief passt diese Bemerkung ja nicht, daher extra ganz unten: dass Du uns, wieder was spenden willst, freut uns auch sehr und ehrlich gesagt, wir können’s auch brauchen. Danke.
162 Dieser Brief ist nicht mehr beim Adressaten angekommen bzw. wurde er von der Post retourniert, da Gorz zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebte, was Franz Schandl aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste.
163 Joseph Ratzinger (*1927), von 2005 bis 2013 Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche. Das Apostolische Schreiben Sacramentum Caritatis (Sakrament der Liebe) erschien am 22.2.2007.