12-15.3.06
Lieber Stefan,
Dein lieber Brief vom 5.2. hat mir riesige Freude gemacht. Mit seinen ausgiebigen Verlängerungen war er – Du konntest es nicht wissen – mein Geburtstagsgeschenk. (Ich bin am gleichen Tag wie Thomas Bernhard geboren, nur 8 Jahre früher). Ich wollte Dir schon seit einiger Zeit zu schreiben. Seit meiner letzten Meldung, im November, habe ich endlich Rob. Kurz‘ Weltkapital gelesen und dabei so einiges verstanden, was mir unklar war; namentlich woher das viele „überschüssige“ Finanzkapital kommt, das weiter die Liquidität der nördlichen Ökonomien sichert, trotz rückgängiger Nachfrage und Wertsubstanz. S. 110 und 471-472 findet man kurze Andeutungen zur Richtung und Perspektive, die sich der „Befreiungskampf“ geben müsste. Die 2 letzten Kapitel zur Krise, bzw. dem Verlust an Inhalt und Bedeutung der Linken, sind stark und überzeugend.
An Deinen beiden Texten fand ich den Unterschied zwischen dem Gespräch mit Ulrich Weiß und dem Artikel, den Du mit St. Merten geschrieben hast, besonders interessant. Ich habe im Anschluss daran die Beiträge zum Seminar vom April letzten Jahres wiedergelesen. Bei Dir finde ich und schätze ich ganz besonders die selbstreflektierende „Arbeit“, die auch seit ca. 2 Jahren in Paris von Gruppen geleistet wird, die aus der „Psychologie de la motivation“ (Paul Diel, ein Elsässer131) kommen. In einer der mir bekannten Gruppen kam es rasch zu 200 Teilnehmern, die sich bemühen, die Beweggründe zu hinterfragen, die jeden/r von ihnen in seinen auf gesellschaftliche Veränderung abzielenden Aktionen motiviert. Das war ungefähr schon Deine Frage in Deinem Gespräch mit Ulrich Weiß „Verwertung oder Leben“: Wie lässt sich die Warengesellschaft im eigenen Leben, der eigenen Einstellung überwinden, nicht nur praktisch, auch auf dem Boden der Subjektivität? Wie löst man sich persönlich/kollektiv aus „durch die Verwertungslogik determinierten, gesellschaftlich vermittelten Zielkonstellationen“ (vgl. S. 3-4 Deines letzten Briefes). Ohne persönliche „Bekehrung“, die natürlich durch gemeinsame (kollektive) Handlungen gestützt und gestärkt sein muss, kommt es zu nichts.(1)
Sowohl im Gespräch mit Uli W. Wie im Artikel mit Stefan M. stellt sich die Frage (S. 5 bzw. S. 299, 306) der Knappheit, ihrer notwendigen Überwindung. Solange Wünschbares und/oder Notwendiges knapp ist, ist Freiwilligkeit und Verallgemeinerung, „das Zusammenfallen von individueller Entfaltung und gesamtgesellschaftlicher Vorsorge“ (S. 5/6), die Beseitigung von Äquivalenzbeziehungen unmöglich. Nun sind aber alle Begrenzungen nicht „abstellbar“. Knappheit ist nicht nur eine „geschaffene, soziale Form der Warenproduktion“. Alle Güter oder Ressourcen lassen sich nicht in unbegrenzten Mengen produzieren. Die Knappheit an natürlichen Ressourcen (Wasser, Land, Raum etc.) begrenzt auch die Verfügbarkeit produzierbarer Güter. Die Ausdehnung der GPL-Gesellschaft132 auf materielle Güter, bzw. deren freie Verfügbarkeit, setzt eine Kultur der Selbstbegrenzung, d.i. der Begnügsamkeit voraus, – des „genug ist genug“, – die durch die Warengesellschaft methodisch und vorsätzlich bekämpft und ausgetrieben worden ist. Ohne freie, allgemein verbindliche Selbstbegrenzung könnte freie Verfügbarkeit materieller Güter nur durch Rationierung, durch Einführung von Gutscheinen, wie in der Kriegswirtschaft, zustande kommen.
Normen des „Genügenden“ könnten global ausgearbeitet und freiwillig eingehalten werden. Doch stellt sich hier die Frage der Vermittlung. Die „unmittelbare Verknüpfung von individuellem und gesellschaftlichem Nutzen“ – setzt sie nicht konkrete wechselseitige Beziehungen, eine gemeinsame Kultur, ein Gemeinwesen voraus, ein gemeinsames Projekt? Im letzten Heft von Widerspruch (Nr. 49/50) hat Pierre Franzen, der Chefredakteur, auf meinen Rat hin einen großartigen Beitrag von Franz Nahrada über Frithjof Bergmanns Buch gedruckt.133 Ich glaube, high-tech Selbstversorgung könnte einen Ausweg bieten, insofern die Selbstversorgungsaktivitäten kommunale nichtwarenförmige Versorgungseinheiten regional verknüpfen und, nach dem GPL-Modell, global ausdehnen. Darüber hab ich mit meinem dänischen Freund fantasiert und lege die betreffenden Seiten bei. Und auch einen Auszug aus Ökologie und Freiheit (1977) in dem es um Knappheit und ein alternatives Konsummodell geht.
Noch einmal zurück zur Subjekt-Frage. Du hast sie, im Artikel mit St. Merten, diskret öfters aufgeworfen, z.B. in der Passage über „Anpassung“ (ich kann sie momentan nicht wiederfinden). Vom 5-Schritt-Modell ist sie jedoch abwesend, als genüge die Krise des Alten, um die Ausbreitung der Keimform zu sichern. In einem früheren Artikel (dem Berliner Vortrag?) unterscheidest du zwischen an sich bestehenden Möglichkeiten und deren Subjektivierung in „für sich“ wahrgenommene, verwirklichende Tätigkeiten. Das kann Jahrzehnte dauern, die Krise kann zu totalem Verfall, Untergang in die Barbarei führen – wovon wir bereits zahlreiche Beispiele haben. Das erinnert mich an Mertens, übrigens sehr interessanten Beitrag zum Seminar im April 2005. Bezüglich der Selbstunternehmer (Ich-AG) sieht er in ihrer Praxis eine Keimform, vorausgesetzt, dass man „den kapitalistischen Überbau abzieht“. Das gleiche findet man bei Negri, der den „Selbstverwerter“, wenn man den Überbau abzieht, als einen, der die Grundlagen des Kommunismus bereitet, ansieht. Die vielen Ambivalenzen Negris und seiner Anhänger dem Kapitalismus gegenüber lassen sich so erklären: Negri hat seine gegenwärtige Theorie von Deleuze-Guattari134 abgeleitet, denen es vor allem um die Entfesselung, die Entgrenzung der Begierde (désir) geht. Nun, was ist Kapital, die Logik des K., anderes als (das findet man schon bei Deleuze) (und wenn man will bei Marx) entgrenzte, entkörperlichte, entsinnlichte, entmenschlichte Macht-an-sich, gegenüber allen inhaltlichen Bestimmungen widerspenstig, „grenzenlose Begierde“. Die Negristen sind folglich Befürworter der Bionik, des Transhumanismus, der Abschaffung der Menschheit (Menschgattung) und der inneren und äußerliche Natur, des künstlichen Uterus, des künstlichen Lebens, des Cyborgkults. Und all das findet man auch bei Akteuren der Freien Softwarebewegung. Ein heikles Problem. Bei den Wertkritischen, hingegen, findet man das nicht, eine Grenze ist hier gezogen. Du kennst ja meine Haltung diesen Themen gegenüber, und dass ich es für überaus wichtig halte, Stellung zu nehmen. Muss die Freie Softwarebewegung, das Konzept der GPL-Gesellschaft an diesem Problem zerbrechen, sich spalten? Kann man es beiseite lassen? That is the question. Einfacher: Soll man es in gewissen Fällen anderen überlassen? May be.
Lieber Stefan, wie es das Schriftbild zeigt, bin ich ziemlich erschöpft, zerfahren. Dein Brief hat mich immens gefreut und gerührt. Ich habe ein „grenzenloses“ Vertrauen zu Dir.
Alles Liebe.
André.
(1) Ich komme auf dieses Thema gleich wieder zurück, S. 3.
131 Paul Diel (1893-1972), französischer Psychologe österreichischer Herkunft.
132 Der Begriff GPL-Gesellschaft wurde von Stefan Merten geprägt. GPL steht für General Public License, die am weitesten verbreitete Lizenz für Freie Software, die das Copyleft-Prinzip umsetzt (vgl. Fußnote 10).
133 Vgl. Franz Nahrada 2005b.
134 Gilles Deleuze (1925-1995), französischer Philosoph, Pierre-Félix Guattari (1930-1992), französischer Psychiater und Psychoanalytiker.