Berlin, 12.12.2006
Lieber André,
lange schon habe ich dir nicht mehr geschrieben. Inzwischen hat sich meine Lebenssituation stark verändert. Das große ver.di-Projekt ist beendet, seit Juli bin ich „frei“. Das bedeutet, dass ich jetzt meine überzähligen Tage meines Arbeitszeitkontos abfeiern kann. Das verschafft mir eine bezahlte freie Zeit bis 2012. Diese enorme Zeitspanne kommt zustande, weil ich nur eine 0,4-Stelle innehabe, d.h. regulär nur zwei Tage in der Woche arbeite. Ich bin einer von jenen Menschen, von denen Peter Glotz in verschiedenen Zusammenhängen sprach: Ich habe lieber mehr Zeit als mehr Geld. Und nun sogar am Stück – das ist wunderbar!
Zunächst mal habe ich mir eine Auszeit gegönnt und mich um sehr unmittelbare Dinge gekümmert, die seit Jahren liegen geblieben sind: vom Ordnen der Papier- und Bücherberge in meinem Zimmer bis hin zu notwendigen Arztgängen. Inzwischen habe ich wieder zahlreiche neue Projekte begonnen, darunter ein kollektiver Blog im Internet140, die Neu-Entwicklung meines Onlineprojektes „open theory“141, ein Forschungsprojekt „Keimform“142 und zahlreiche Artikel. – „Langeweile“ kann ich mir nicht vorstellen, immer wieder werde ich danach gefragt. Langeweile scheint für viele die Horrorvorstellung zu sein, die sie mit „Arbeitslosigkeit“ verbinden: Nicht nur ein Verlust der Einkommensquelle, sondern vor allem der sozialen Bezüge. Das verweist auf eine für mich merkwürdig anmutende Bedeutung der Lohnarbeit: Sozialität in der Entfremdung. Aber so ist es wohl für viele.
Das Forschungsprojekt „Keimform“ ist sehr spannend. Im Umfeld des Oekonux-Projektes ist der Begriff „Keimform“ zu einiger Popularität gelangt. Intuitiv werden damit Ansätze einer gesellschaftlichen Konstitution jenseits des Kapitalismus angesprochen – oder anders formuliert: Es geht um die Suche nach dem Neuen im Alten. Gleichzeitig ist der Begriff „Keimform“ so vage, dass darunter inzwischen allerlei subsumiert wird. Das war der Anlass für Uli Weiß, von dem ich schon öfter schrieb, Annette Schlemm, Philosophin und Physikerin als Jena, und mich dieses „Forschungsprojekt“ zu bilden. Wir nehmen uns den Begriff „Forschung“ einfach heraus, auch wenn wir keine Anbindung an eine Universität haben. Uns ist dabei aufgefallen, dass wir uns immer wieder Geschichten erzählen, die einerseits den Wahnsinn des normalen kapitalistischen Alltags illustrieren, andererseits das wie auch immer verborgene oder verschrobene Überschreiten eben dieses Alltags. Solche Geschichten wollen wir sammeln. Eine dieser Geschichten („Rolf im Kino“ von Uli) lege ich dir bei.143
Eine erste Frage war für uns, warum es so viele Menschen, die schon auf der Suche nach Alternativen sind, immer wieder in die Denkformen des Kapitalismus fallen und damit letztlich in diesem enden. Die Alternativbewegung zeigt das anschaulich, und genau das läuft jetzt zum x-ten Mal mit dem Kongress „Solidarische Ökonomie“, der in Berlin im November stattfand.144 Warum ist es so schwer, nicht nur sich selbst ein anderes Leben jenseits von Geld, Tausch und Markt auch nur vorzustellen? Sondern auch, unsere Argumente, die genau so einen Standpunkt zugrunde legen, auch nur zu verstehen? Das ist die Erfahrung, die wir drei gemeinsam immer wieder machen.
Beim Nachdenken darüber sind wir verallgemeinernd zu der Frage nach dem Fortschritt in den Wissenschaften gekommen. Natürlich begegnet uns hier Thomas S. Kuhn mit seinen „Paradigmenwechseln“.145 Doch die Erklärungen sind unbefriedigend. Annette Schlemm brachte uns auf die wissenschaftstheoretischen Diskussionen innerhalb der Physik. Anhand der Frage, warum und wie Einstein zur Relativitätstheorie kam, wird dort allgemein über Fortschritte in der Wissenschaft diskutiert. Hier ist es vor allem Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, der interessantes beigesteuert hat. Beiliegend findest du einen Text (Zum Begriff „Mentales Modell“), in wir das Verhältnis von gesellschaftlichen Denkformen und individuellem Denken diskutieren.146
Inzwischen habe ich ferner einen längeren Aufsatz für das nächste Krisis-Heft fertiggestellt – diese Einladung konnte ich nicht ausschlagen. Mal sehen, ob sie ihn akzeptieren. Im Artikel befasse ich mich noch mal intensiver mit dem Thema „Knappheit“ v.a. in linken Diskursen. Dazu habe ich dir auch im letzten Brief viel geschrieben – du siehst, es beschäftigt mich. Den Artikel (Entwurf) lege ich auch bei. Ich hoffe, es wird dir nicht zu viel.147
Ich nehme an, du bist mit anderen Dingen beschäftigt, die wesentlich wichtiger sind als die Korrespondenz mit mir. Das verstehe ich sehr gut, bitte fühle dich nicht unter Druck gesetzt, mir zu schreiben. Ich hoffe, es geht dir und deiner Frau gesundheitlich gut, es würde mich schmerzen, wenn es nicht so wäre.
Schöne Weihnachtstage und beste Wünsche zum neuen Jahr!
(Stefan)
140 Der kollektive Blog ist www.keimform.de ist bis heute aktiv.
141 Die Neu-Entwicklung von www.opentheory.org, einem kollaborativen Onlinewerkzeug zur Entwicklung von Texten, wurde eingestellt, da es inzwischen zahlreiche andere Werkzeuge zur kollektiven Textentwicklung gibt (von Wikis bis hin zum parallelen Bearbeiten von Texten in Etherpads).
142 Das Forschungsprojekt „Keimform“ wird in der Gruppe „Wege aus dem Kapitalismus“ weitergeführt.
143 Vgl. www.opentheory.org/kf_geschichte_1/text.phtml und www.opentheory.org/kf_geschichte_1_ged/text.phtml
144 Vgl. www.solidarische-oekonomie.de/alte_seite/index.php?id=doku
145 Thomas Samuel Kuhn (1922-1996), US-amerikanischer Wissenschaftsphilosoph und Wissenschaftshistoriker.
146 Vgl. www.opentheory.org/kf_mentales_modell/text.phtml und www.opentheory.org/kf_mentales_modell2/text.phtml
147 Vgl. Stefan Meretz 2007.