9.1.2007.
Lieber Stefan,
Dein Brief + Beilagen vom 12.12. haben mir eine riesige Freude gemacht. Ich hatte Angst, dass der Faden zwischen uns wegen meines langen Schweigens abreißen würde. Glaub mir: nichts ist mir „wesentlich wichtiger“ als die Korrespondenz mit dir. Ich lege dir den Anfang des Briefes bei, den ich dir am 5.10. schreiben wollte und den ich dann abbrechen musste. Nicht Wichtigeres, einfach Dringendes und physisch-psychische Überforderung haben diese Unterbrechung erzwungen.
Ich hoffe, dass ich den Brief vom 5.10. in den nächsten Wochen beenden kann – alles was du mir im April geschickt hast hat mich zum Weiterdenken angeregt und auf frühere Korrespondenzen zurückzugehen – und dann auch auf deinen letzten Brief näher einzugehen.
Deine Überlegungen zum Thema „Knappheit“ hatte ich anfänglich missverstanden: Der Begriff hat in keiner anderen Sprache sein Äquivalent und darf sichtlich mit den mir geläufigen Begriffen von „scarcity“ und „pénurie“ (deren deutsches Äquivalent eher „Not“ wäre) verwechselt werden. In Sartre’s „Kritik der dialektischen Vernunft“ spielt „rareté“ (in der deutschen Fassung als „Mangel“ übersetzt, statt als „Begrenztheit“) eine bedeutende Rolle als Negativität die negiert werden muss und als Moment der Geschichte wirkt. „Rareté“ bedeutet bei ihm, dass immer die Gefahr besteht, dass die verfügbaren Ressourcen nicht für alle ausreichen, dass also ihre Begrenztheit dazu führt, dass die Gemeinschaft „Überzählige“ verjagen muss: Jeder ist ein potenzieller Überzähliger. Der Umgang mit der realen und potenziellen Begrenztheit ist folglich die wichtigst gesellschaftlich-kulturelle-zivilisatorische Aufgabe. In prähistorischen Kulturen führt sie dazu, dass die Anzahl der Mitglieder der Gemeinschaft im Einklang mit der Begrenztheit der („natürlichen“) Ressourcen begrenzt wird: Geburtenkontrolle und auch (bei den Inuit z.B.) der Auszug der Alten die, wenn sie für ihren Lebensunterhalt nicht mehr sorgen können, die Siedlung verlassen und dem Kältetod entgegengehen.
Fortsetzung im nächsten Brief.
Mittlerweile wünsch ich dir viel Freude und Ideen im kommenden Jahr.
Alles Liebe.
André.