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30.08.2003: André Gorz an Stefan Meretz

André Gorz
30, r. de la Mairie
10130 Vosnon
0033/325421302

Vosnon, 30.8.2003

Lieber Stefan,

über Deinen Brief und das Skript Deines Düsseldorfer Vortrags 96 war, bin ich ganz entzückt.6 Endlich wieder einer, der sich als lebendiges Subjekt in sein Denken einbringt, statt sich loswerden zu wollen. Hermeneutik + Topik, allgemeinverständlich und nicht allein für Philosophen(1): Was ist in welcher Beziehung wissenswert? Das war auch für mich in L’Immatériel eines der Themen.

Die Doktorarbeit meines Freunds Erich Hörl7 endet so: „Immer dann, wenn eine Epoche vom Zustand der epistemischen Poesie in denjenigen der Prosa des Verstandes wechselt, werden die blinden Flecken offenbar, denen sie stets die schönsten Texte und die glücklichsten Träumereien schuldet… heute wissen wir nur zu gut, dass wir dieser Blindheit fast alles verdanken, was uns zu denken aufgegeben ist.“

Darf ich Dich bitten Erich H. Deinen 14-seitigen Vortrag zu schicken?(2) Über die Frage, was nicht in digitale Algebra übersetzbar ist, haben wir (E. und Ich) uns noch nicht geeinigt.

Die kurzen Hinweise auf „Keimformen“ (wie Du sagst) einer Gesellschaft jenseits von Markt und Geld, im WOZ-Gespräch, waren ursprünglich mit Zitaten von Wolf Göhring gespickt. Eines davon ist geblieben, unter Anführungszeichen, aber die Quellenangabe wurde leider von der Redaktion gestrichen. Ich gebe Dir die Anschrift von W. Göhring(3), von dem ich, als ich L’Immatériel schrieb, nur einen Express-Artikel kannte und zitierte. In der taz ist die Fußnote wieder retabliert.

Nach Wien, lieber Stefan, komme ich im Mai leider nicht. Schon vor etlichen Jahren musste ich das Reisen aufgeben. Aber die theoretischen Fragen, die Dich beschäftigen, interessieren mich. In einem „Gespräch“ mit Redakteuren von „Multitudes“ erwähne ich einige, die mir unlösbar scheinen(4). Was mich bei so einigen „Negristen“ irritiert, ist das axiomatische Denken, das verbale Lösungen auf vereinfachte Fragestellungen formuliert, und mit Konzepten herumfuchtelt, deren Relevanz nie untersucht wird. Gerade all das vermeidest Du, und deshalb habe ich Dich sofort geschätzt.

Bis jetzt habe ich noch keinen Verleger gefunden. Suhrkamp (Wissen) hat nicht reagiert, Günther Thien (Westf. Dampfboot) hat nach 4-monatigem hin und her im Juli eine 2-monatige Option verlangt und nie ein Angebot gemacht. Kennst Du einen Verleger, der sich ein derartiges Buch reißen würde (die Übersetzung müsste ich noch überarbeiten und ergänzen)?

Es freut mich, mit Dir in Verbindung zu sein.

Mit herzlichen Grüßen.

André.


(1) s. Rudolf Boehm, Topik, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, 2002.

(2) Erich Hoerl, Gethsemanestr. 3/2 D-10437 Berlin.

(3) Wolf Göhring, Fraunhofer Institut für autonome informatische Systeme (AIS) D-53754 Sankt Augustin.

(4) Sprichst Du französisch?


6 Gorz bezieht sich hier auf den Vortrag „Informatik Arbeit Subjektivität. Die Wirklichkeit der Virtualität“ (online: www.kritische-informatik.de/?infarbl.htm), wobei Gorz hier damaligen Wohnort (Düsseldorf) und Vortragsort (Berlin) verwechselt.

7 Erich Hörl (*1967), deutscher Philosoph und Medienwissenschaftler.

Veröffentlicht in Briefe