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05.10.2003: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 5.10.2003

Lieber André,

herzlichen Dank für Deinen schönen Brief, den ich nun viel zu spät beantworte – mir war eigentlich schon viel eher danach. Aber so viele interessante Projekte haben mir nicht die Muße gelassen, die ich für einen Brief brauche. Kognition und Reflexion in einem Brief sind doch etwas sehr anderes als die Beantwortung von E-Mails, von denen ich pro Tag ungefähr 100 lese und 20 schreibe.

Wolf Göhring kenne ich sehr gut, wir haben uns bei der ersten Oekonux-Konferenz in Dortmund8 kennengelernt und seitdem einige Male getroffen. Er versucht einerseits, in seinem Arbeitszusammenhang den Kollegen vermittels Adam Smith den Marx unterzuschieben; andererseits, seinen Genossen von der DKP zu einem etwas offeneren Blick auf denselben zu verhelfen. Beides ist sehr anerkennenswert, aber sicherlich nicht so einfach! Ich mag mich von solchen „taktischen“ Bedingungen gar nicht (mehr!) leiten lassen, sondern begreife Theorie als Reflexion meiner gesellschaftlichen Praxis. Aber vielleicht tue ich Wolf auch unrecht, und er empfindet das nicht als Gegensatz.

Zu Verlegern habe ich keinen Kontakt. Dass Suhrkamp auf deine Anfrage nicht reagiert, ist skandalös. Mir fielen für dein Buch folgende Verlage ein: Campus-Verlag Frankfurt (dort ist die deutsche Ausgabe von „Empire“ von Hardt/Negri erschienen), Eichborn-Verlag (wo das „Schwarzbuch Kapitalismus“ von Kurz9 erschienen ist), Argument-Verlag (dem Hausverlag von W. F. Haug10). Wenn ich irgend etwas tun kann, um das Erscheinen deines Buches im deutschsprachigen Raum zu ermöglichen, lass es mich wissen. Aber meine Erfahrungen sind hier arg begrenzt und Ungeschicklichkeiten nicht ausgeschlossen. Den besten Draht habe ich noch zum Argument-Verlag.

Der Grund für meine Unbeholfenheit gegenüber den „traditionellen Wegen“ der Publikation ist die Warenform, der Verlage Rechnung tragen müssen (im wahrsten Sinne des Wortes). Sie müssen von mir eine Übertragung des exklusiven Nutzungsrechtes verlangen, damit sich das Produkt am Markt als Ware bewähren kann. Dagegen habe ich zwei Einwände. Erstens ist mir der Inhalt wichtig und nicht die Verkaufbarkeit. Ich mag auch nicht ansatzweise in Begriffen von „Verkaufbarkeit“ denken. Zweitens geht mir die Logik des Ausschlusses, die in der exklusiven Übertragung der Nutzungsrechte liegt, völlig gegen den Strich: Warenform setzt Knappheit voraus, was den Ausschluss aller von der Nutzung impliziert. Die neue Epoche der Produktivkraftentwicklung, deren widersprüchliches Heranreifen sich eben genau in jener Frage zeigt, verlangt den Einschluss aller. Die Warenform, die auf Knappheit und Ausschluss beruht, hat ihre Entwicklungspotenzen ausgeschöpft und ist an ihr Ende gekommen. Ich bin nicht bereit und emotional in der Lage, diese Ausschlusslogik zu reproduzieren, wenn ich publiziere. Deswegen stelle ich alle meine Texte unter eine „Copyleft-Lizenz“.11 Diese erteilt das volle Nutzungsrecht, sie schließt nur das Ausschließen aus. Ein Verlag kann also meine Texte abdrucken, darf nur niemanden hindern, das selbst unbeschränkt auch zu tun. Wenn sich schließlich kein Verlag interessiert, gibt es das Internet, das für mich der Hauptpublikationsweg geworden ist.

Mit dieser Umgehensweise mit meinen Produkten, die ich ohnehin nur als gesellschaftliche Produkte begreifen kann, stehe ich keineswegs allein. Es gibt vielfältige Versuche, die Prinzipien – Produktionsweise wäre zu hoch gegriffen – der Freien Software zu adaptieren. So hat das Creative-Commons-Projekt in den USA eine Reihe von Lizenzen ausgearbeitet, die das Copyleft-Prinzip auf andere nichtstoffliche Werke überträgt. Denn interessanterweise verschafft die Inklusionslogik zunächst auch denen, die sie innerhalb der Verwertungslogik aufgreifen, einen Konkurrenzvorteil. Wenn es durch die massenhafte erlaubte Kopie die Aufmerksamkeit in dem Maße vergrößert wird, dass die Anzahl derjenigen, die das Buch trotzdem kaufen, größer ist, als die Zahl, die es bei kleinerer Aufmerksamkeit und Ausschlusslogik kaufen würden, dann lohnt sich auch die Freigabe. Dass dieses Verhalten gesamtgesellschaftlich die Warenform aufheben würde, würden alle Verlage in gleicher Weise agieren, liegt auf der Hand. Sie tun es also nicht, weil es nicht für alle gehen kann. Insbesondere die großen Verlage werden die klassischen Formen aufrecht erhalten. Aber die Verschärfung der Urheberrechtsgesetze, die Auseinandersetzung um Softwarepatente in der EU, die Kontroversen um die Fragen der globalen Verfügung über die geistigen Ressourcen der Menschheit (etwa auch beim WTO-Gipfel in Cancún12), deuten die Widerspruchslinien an.

Anbei findest du ein Exemplar der Streifzüge13, Ausgabe 2/2003, in der der zweite Teil meines Aufsatzes „Zur Theorie des Informationskapitalismus“ erschienen ist. Vielleicht hast du den Aufsatz bereits bekommen. In dem Text setze ich mich mit den Überlegungen von Ernst Lohoff14 auseinander, der – unter anderem mit einem André-Gorz-Zitat! – die These vertritt, dass der gesamte Informationssektor genuin wertunproduktiv ist. Das Kernargument: Es handelt sich um allgemeine gesellschaftliche Arbeit, die nicht mehr Ergebnis, sondern Voraussetzung von Produktion geworden ist. Ich bin, wie du es lesen kannst, hierbei sehr unsicher. In dem Aufsatz halte ich probeweise dagegen, indem ich eine historische Rekonstruktion der Herausbildung des Informationssektors versuche. Das ist meine kleine ungelöste theoretische Frage. – Ich bin so gespannt auf dein Buch, das ich nach Hinweisen absuchen werde. Kannst du mir schon „vorab“ etwas dazu schreiben?

Ich befürchte, mein schulfranzösisch ist nicht gut genug, um theoretische Fragen verstehen zu können. Dennoch würden mich deine Fragen, die dir unlösbar erscheinen, interessieren. Kannst du mir dennoch eine Kopie des erwähnten Multitudes-Gesprächs schicken? Vielleicht finde ich eine Unterstützung für die Übersetzung. Könntest Du Dir einen Abdruck einer übersetzten Fassung in einer deutschsprachigen Zeitschrift vorstellen? Ich denke da an die „Jungle World“, ich könnte fragen, ob sie interessiert sind.

Lieber André, hilf mir: Welchen Vortrag von 1996, gehalten von mir in Düsseldorf, meinst Du? Ich kann mich nicht erinnern, 1996 einen Vortrag in Düsseldorf gehalten zu haben (jedoch in Berlin). Es muss sich um eine falsche Datierung oder andere Verwechslung halten. Wie lautet der Titel?

Es grüßt dich herzlich aus Berlin:

(Stefan)


8 Die erste Oekonux-Konferenz fand vom 28. bis 30.4.2001 in der Fachhochschule Dortmund statt, vgl. erste.oekonux-konferenz.de/.

9 Robert Kurz (1943-2012), deutscher Philosoph und Publizist, vgl. Kurz 1999.

10 Wolfgang Fritz Haug (*1936), deutscher Philosoph und Verleger (Argument-Verlag).

11 Das Copyleft-Prinzip verlangt bei der Weitergabe originaler oder veränderter Werke, dass die Lizenz erhalten bleibt. Das führt zu einem „viralen Effekt“, der die freie Verfügbarkeit auf immer mehr Werke ausdehnt. Heute ist die spezielle Variante „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen“ der Creative-Commons-Lizenzen weit verbreitet. Wikipedia etwa nutzt diese Copyleft-Lizenz.

12 Die Ministerkonferenz der WTO in Cancún, Mexiko, fand vom 10.-14. September 2003 statt.

13 Das Magazin Streifzüge wird in Wien herausgegeben und hat eine wertkritische Tendenz.

14 Ernst Lohoff (*1960), deutscher Soziologe und Mitglied der Krisis-Gruppe.

Veröffentlicht in Briefe