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10.–30.11.2003: Stefan Meretz an André Gorz

Wien,10.-13.11.2003
Berlin, 30.11.2003

Lieber André,

vielen, vielen Dank für deinen Brief – ich freue mich so sehr! Der Brief hat mir sehr viele Anstöße gegeben, denn es sind die Fragen, die mich auch brennend interessieren. Dabei stellst du dein Licht wahrhaftig unter den Scheffel – was soll ich denn sagen? Ich bin nur ein Informatiker, der nicht aufhören kann, zu fragen. Wenn du sagst, du seiest kein Gelehrter, so habe ich das Gefühl, die Epoche der „Gelehrten“ ist ohnehin vorbei. So wie die stoffliche Produktion mehr und mehr in Netzwerken stattfindet, so muss das auch die der Theorie tun.

Dagegen spricht nicht die hohe Wertschätzung der Materialität des (wissenschaftlichen) Buches, die du zum Ausdruck bringst. Seine Bedeutung ist eng mit dem des (oder der) Gelehrten verbunden. Doch unter den Bedingungen der Warenform und der sich auch im wissenschaftlichen Raum verschärfenden Konkurrenz ist das Buch nicht mehr „vergesellschaftete Form“ eines überindividuellen Prozesses, sondern Ausdruck des Bestrebens nach Abgrenzung, Originalität und Besonderheit – heischend nach Aufmerksamkeit auf dem Markt der Beliebigkeiten. Dem Sog kann sich niemand entziehen, denn spätestens der Verlag fragt nach „Alleinstellungsmerkmalen“, die das Buch von anderen auf dem Markt abhebt. Das, glaube ich, musstest du erleben. So bin ich sehr froh, dass du nun einen Verlag gefunden hast.

Versteh‘ mich nicht falsch: Ich liebe Bücher. Besonders deine Beschreibung der Körperlichkeit von Büchern kann ich so gut nachvollziehen. Insbesondere Bücher, mit denen ich häufig arbeite, werden für mich zu „visuellen Landschaften“, durch die ich mich bewege: Ich weiß, wie die von mir „bearbeitete“ Seite aussieht, riecht und sich anfühlt, auf ein für mich wichtiger Gedanke steht. Dennoch: Ich bin sehr skeptisch, was die gesellschaftliche Wirksamkeit und Bedeutung von Büchern angeht.

Du verweist in deinem Nachdenken über die Materialität von Büchern stets auf das Produkt, auf die Inkarnation eines Gedankenprozesses, nicht aber auf den Prozess selbst. Ich deutete oben schon meine Auffassung an, dass es immer wichtiger wird, in Netzwerken nachzudenken und in Netzwerken den Nachdenkprozess bewusst zu organisieren. Im Grunde machen wir das gerade, in dem wir uns schreiben. Es handelt sich jedoch um eine – netzwerktechnisch gesprochen – sehr „schmalbandige“ Verbindung. Niemand anderes kann direkt an unser Verbindung teilhaben. Indirekt schon: Ich erzähle Freunden von den Briefgesprächen wie ich über alles erzähle, was mich bewegt. [Am Rande die Frage gestellt: Kann ich Freunden die Briefe zeigen? Ich habe umgekehrt nichts dagegen. Ich respektiere aber selbstverständlich, wenn du es nicht möchtest].

Meine These ist: Das Netz, das Internet, ist als Veröffentlichungsort dem Buch zunehmend ebenbürtig. Es ist gerade nicht so, dass eine Selbstveröffentlichung im Netz einen bloßen persönlichen, privaten Charakter hat wie du annimmst. Das Netz ist eine Form der Vergesellschaftung. Es ist im Unterschied zum stofflichen Äquivalent in der Lage, nicht nur die Wissens-Produkte selbst, sondern potenziell auch den kompletten Prozess hin zu einem Wissens-Produkt darzustellen. Bei Lichte besehen verschwindet gar der Unterschied zwischen Prozess und Produkt, denn jede „Fertigstellung“ ist potenziell nur Durchgangsstadium zu einem neuen Produkt. Der Begriff der Version, des Work-in-progress, gewinnt größere Bedeutung gegenüber der Dauerhaftigkeit. Nun, um das einzuflechten, spreche ich nicht von dem „normalen Gerede“, das du benennst – das gibt es ja zu Hauf auch in Buchform –, sondern von den Projekten, die sich explizit die neuen Möglichkeiten des Netzes zweckgerichtet zu nutze machen wollen. Ein völlig unzureichendes Beispiel ist die von mir und anderen entwickelte Internet-Plattform „open theory“, die diese von mir hier skizzierte Theorieproduktion ermöglichen soll.27 So wie man Schreibfeder, Schreibmaschine oder heute Textverarbeitungsprogramm als Werkzeug zum Abfassen eines Buches benötigt, so braucht die virtuelle, vernetzte Theorieproduktion auch ihre Werkzeuge. Das Netz als solches ist leer. Für ideal halte ich die gleichzeitige Veröffentlichung als materiales Ding und Text im Netz. Das setzt aber die Freiheit des Textes im Sinne eines Copyleft voraus.

Wenn du schreibst, Bücher „unterscheiden sich von ‚richtigen Waren‘ dadurch, dass sie nicht gegen alle anderen Waren austauschbar sind, mit ihnen nicht in einem Äquivalenzverhältnis (dem Tauschwert) stehen“, dann möchte ich dir hier widersprechen und gleichzeitig die Intention der Aussage unterstützen. Wie meine ich das? Nun, offensichtlich tauschen sich Bücher gegen Geld, der allgemeinen Ware überhaupt und damit gegen jede Ware. Hier gilt es eine wichtige Unterscheidung zu treffen, nämlich die von Wert und Tauschwert. Das ist in meiner Sicht ein Unterschied um’s Ganze, deswegen möchte ich das etwas ausführen.

Vorher eine kleine Einflechtung: Vielleicht kommen dir die folgenden Ausführungen auch „zu ökonomistisch“ vor. In gewisser Weise trifft das zu, denn meine Denkweise ist im Vergleich zum französischen Marxismus sicher „deutscher“. Aber ich sehe hier keinen Widerspruch, sondern für mich sind das verschiedene Herangehensweisen, die sich in unterschiedlicher Denkweise und unterschiedlicher Begrifflichkeit dem gleichen Gegenstand nähern. Ich will also nicht unbedingt herausfinden, wer „recht“ hat – einen Wahrheitsanspruch gebe ich trotzdem nicht auf –, sondern was in der anderen Annäherung steckt, das ich gerade nicht sehe. Nun zu Wert und Tauschwert.

Der Wert und all die Begriffe drumherum sind gesellschaftstheoretische Kategorien. Genau genommen gibt es das, was sie bezeichnen, nicht, sie haben kein realweltliches Gegenüber. Es sind Verstehbegriffe des wesentlich umfassenderen Prozesses der Reproduktion des Kapitals, letztlich der gesamten Ökonomie. Es ist paradox: Erst ein Begreifen des Gesamtzusammenhangs erschließt das Verstehen der Einzelkategorien, die man aber braucht, um den Gesamtzusammenhang zu begreifen. Deswegen kann man nicht sagen, was der Wert „ist“. Der Wert ist keine Seinseigenschaft eines Dings. Die Hilfssprechweise lautet daher häufig, der Wert sei „ein gesellschaftliches Verhältnis“, was stimmt, aber alles und nichts erklärt. Ich habe sicher auch nicht den Gesamtzusammenhang verstanden. Ich habe ein Vorverständnis, eine Annäherung, die meine Grundlage ist. Ich gehe von G-W-G‘ aus. Darin ist „Wert“ ein Aspekt in einer Kette von Umwandlungen: Arbeit – Ware – Wert – Tauschwert – Geld – Kapital. Nur wenn die Kette zu einem erweitert (G‘) reproduktiven Zirkel geschlossen wird und wieder in einen neuen Zyklus eingeht, funktioniert Kapitalismus. Die Beschreibung fasst auch nur solche „erfolgreichen“ Reproduktionen des Kapitals. Hierin ist der Wert proportional zur aufgewendeten Arbeitszeit des durchschnittlichen Produktivitätsniveaus. Tauschwert hingegen ist realisierter Wert. Auch das ist eine paradoxe Formulierung, denn kommt es nicht zum Tausch, gibt es keinen Tauschwert und damit auch keinen Wert. Daher wird oft Wert identisch Tauschwert gesetzt. Was dabei außen vor bleibt, ist die mögliche Abweichung des Tauschwertes vom Wert. Damit meine ich nicht das Schwanken des Preises um den Tauschwert, sondern eine „systematische“ Abweichung, die in zunehmendem Maße den Informationskapitalismus betrifft, da sich hier Inhalt und stofflicher Träger von einander trennen. Der Inhalt des Buches ist also substanziell „wertlos“, das Substrat des Buches „hat“ einen aus dem stofflichen Produktionsprozess resultierenden „Wert“. Der Tauschwert jedoch liegt jedoch um Größenordnungen darüber – ermöglicht und gesichert durch Rechtsform und Staat. Oder anders formuliert: Das Buch existiert in Form einer Ware, es besitzt damit Wertform; die Wertsubstanz ist wesentlich geringer als der als auf dem Markt verlangte Tauschwert. Daher ist die Differenzierung von Wert in Wertsubstanz und Wertform wichtig – genau genommen hätte ich sie oben in der Beschreibung schon vornehmen müssen. Von hier aus betrachtet sind (abstrakte) Arbeit, Ware, Tauschwert, Geld und Kapital verschiedene Formen des Gleichen: Wertformen. – Ich hoffe, ich konnte mich ein wenig verständlich machen.

Um die vermutete Intention deines Satzes aufzugreifen: Bücher besitzen eigentlich eine geringe Wertsubstanz, dennoch tauschen sie sich zu einem erheblichen Tauschwert auf dem Markt gegen Geld – ein im Einzelnen betrachtet nichtäquivalenter Tausch. Vielleicht ist meine Unterscheidung von Wert(substanz) und Tauschwert die von „valeur intrinsique“ und Tauschwert, die du vornimmst? Oder ist „valeur intrinsique“ doch eher der Gebrauchswert?

Nichtäquivalenter Tausch im Einzelnen bedeutet immer, dass wie bei anderen Informationsprodukten so auch hier eine „Informationsrente“ gezahlt wird, die sich aus anderen wertproduktiven Sektoren der Gesellschaft speisen muss.

Damit bin ich bei dem Thema produktiv/unproduktiv. Du erwähnst hier, dass dir die Debatte „nicht geheuer“ ist: „zu schematisch-ökonomistisch“. Wie ich vorher schon schrieb, trifft diese Kritik wohl zu, denn es handelt sich um eine enge Diskussion im „System der Ökonomie“. Ich würde sie aber eher „ökonomisch“ nennen, denn „~istisch“ wird sie erst dann, wenn die Ökonomie schon für das Ganze genommen wird. Was Negri und andere machen, ist eine Aufweichung der Marxschen Kategorien, in dem sie sie zu bloßen Metaphern machen – eine „Metapherisierung“ gewissermaßen. Damit holen sie den Reichtum des menschlich-gesellschaftlichen Lebens in den Blick, verlieren aber die analytische Schärfe bei der Analyse der grundlegenden selbstreproduktiven Prozesse der warenproduzierenden Gesellschaft. Das „Empire“ ist ein großartiges Buch, es ist eine große Erzählung über die ursprüngliche Kraft der Menschheit. Das gleiche Motiv finde ich sowohl bei Toni Negri (Produktivität der Multitude) wie bei John Holloway (kreative Macht der Menschen)28 und wie bei Klaus Holzkamp (Handlungsfähigkeit als erstes Lebensbedürfnis)29. Das Empire enthält aber keine Analyse der politischen Ökonomie. Eine metaphernreiche Beschreibung ist keine Analyse. Deswegen halte ich die Arbeiten von Negri trotzdem nicht für unseriös, da sie nach meiner Wahrnehmung einfach einen anderen Zugang zu den Fragen haben: es geht hier um die handelnden Menschen und nicht um das verselbstständigte System der Ökonomie und damit leider auch nicht um den Zusammenhang von beidem.

Ich vermute, der Grund dafür ist ein sehr tiefer: die Verwechslung oder die Ineinanderschiebung von Reichtum und Wertanhäufung (z.B. als Geld). Ich trenne beides deutlich, ja, ich würde sogar sagen, dass der Kapitalismus immer weniger in der Lage ist, Reichtum zu produzieren, weil der wirkliche Reichtum nicht durch das „Nadelöhr der Werts“ passt. Ich kann also vollen Herzens deine Formulierung unterstützen: „Produktiv sind alle Tätigkeiten, die die menschlichen Fähigkeiten/Produktivkräfte entwickeln“. Der Unterschied zum Begriff der „(wert)produktiven Arbeit“ ist, dass hier einzig auf den Effekt im Verwertungszyklus geguckt wird: Geht die Arbeit in die Verwertungskreislauf, in die erweiterte Reproduktion des Kapitals – das G‘ – ein oder fällt sie aus ihm heraus? Ist sie Voraussetzung für einen neuen Zyklus der Verwertung oder Endstation? Bedeutet ihr Einsatz Zuschlag oder Abnahme gesellschaftlicher Wertmasse? Deine Definition für Wertsubstanz: „produktiv eingesetztes Volumen von fixem und zirkulierendem Kapital, von toter und kapitalproduktiver lebendiger Arbeit“ ist gut! Darin steckt übrigens auch eher der engere ökonomische Begriff produktiver Arbeit als der weite Begriff vom Anfang dieses Absatzes. Das Auseinanderfallen von „produktiv“ als Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und „produktiv“ als Verwertung des Werts spiegelt doch genau das Auseinanderfallen von Reichtumsschöpfung und Kapitalakkumulation: Reichtum kann immer weniger Wertform annehmen, der Inhalt rebelliert gegen seine Form. Die Beschreibungen von Negri und anderen, was produktive Arbeit sei, sind zwar deskriptiv lebendig, aber theoretisch doch ungenügender Ausdruck dieser Entwicklungstendenz, was sie gar zur umgekehrten These führt: Alle Lebensäußerungen seien eigentlich „produktiv“ und damit wertschöpfend. Das wird mir Angst und Bange, wenn ein divergenter Prozess theoretisch zusammengerafft und alles wie in einer verkehrten Welt durch die Brille der Verwertung betrachtet wird. Es ist ein eigenartiger Versuch, den Begriff „produktiv“ positiv zu besetzen, um ihn dann der Multitude zuzuschreiben, der das böse, raubende Empire gegenübersteht. Ein gefährliches Argumentationsschema! Es ist wohl kein Zufall, dass schließlich der Kernbegriff der Befreiung bei Hardt/Negri im „Empire“ nicht „Selbstentfaltung“, sondern „Selbstverwertung“ heißt.

Die Befreiung liegt in der Selbstentfaltung, weil sie gerade nicht mehr Verwertung ist, weil sie antagonistischer Ausdruck der Selbstverwertung ist, die es natürlich gibt und die zunimmt. Ich sehe also umgekehrt ein zunehmendes Herausfallen aus wirklich wertproduktiven Prozessen, eine massenhafte Alimentation eigentlich unproduktiver Arbeiten durch Staat und Ökonomie (ja: nicht nur durch den Staat). Ich stimme dir auch hier zu, wenn du schreibst, dass Selbstentfaltung als Selbstzweck und als nicht-ökonomischer Reichtum jenseits von Ware und Geld zu betrachten sei – nur komme ich über einen anderen Weg zu diesem Punkt. – Du siehst: Ich schweife mit dir aus, auch wenn vielleicht nicht auf den gleichen Wegen. Keine Sorge also wg. des langen Briefes: Das einzige, was du mit Ausschweifungen und langen Briefen provozierst, sind langes Nachdenken, vielleicht lange Antworten, da ich dir gerecht werden möchte und eine lange Dauer, bis ich den Brief abschließen kann. Es gibt so viel zu denken…

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Was ich bei deiner sonst sehr schlüssigen Argumentation nicht verstehe, ist das Kriterium der Messbarkeit. Dass der Wert einer Ware nicht messbar ist, gilt doch generell, da Wert eine gesellschaftstheoretische, aber nicht eine betriebswirtschaftliche Kategorie ist. Analytisch kann man nur rekonstruieren, ob ein Äquivalenzverhältnis vorliegt, man kann dasselbe aber nicht quantifizieren. Ich habe das Messbarkeitskriterium zuerst „überlesen“, denn ich habe es nicht verstanden. Wo du von Nicht-Messbarkeit sprichst, habe ich die Unterscheidung von Wertsubstanz und Tauschwert, die auseinanderfallen. Ich teile deine These, dass der Informationskapitalismus eine Krisenform des Kapitalismus ist, leite sie aber aus dem Abnehmen der Wertsubstanz bzw. der wertproduktiven Arbeit ab. Das aber nur am Rande.

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Die These von Wolf, die du so formulierst: „Die Praxis nimmt gewissermaßen die Überwindung des Kapitalismus vorweg“ durch Vernetzung der Betriebe, teile ich nicht. Darin wird ein Grundfehler des traditionellen Marxismus wiederholt, der als Theorie der Produktion eigentümlicherweise nicht auf eine Kritik der Produktion abzielt, sondern sie als quasi-neutrale Einrichtung betrachtet. Als Problem erscheint alleine die Verteilung, die durch Markt und Privateigentum bestimmt ist. Ich habe noch nie verstanden – und in meiner Phase als Anhänger dieser traditionellen Interpretation konnte mir nie jemand die Frage beantworten – warum die Aufhebung eines Widerspruchs (hier: von Produktion und Distribution) darin bestehen soll, dass eine Seite gleichsam unverändert bleibt und durch Änderung der anderen Seite des Widerspruchs dann „richtig“ angewendet werden soll. Das war die Theorie des Sozialismus, gleich welcher Art.

Ganz deutlich habe ich das jetzt erst bei Moishe Postone gelesen. Ich mag dieses Buch30 dir schenken, nein, nicht schenken, sondern geben: Eine Gabe ist von anderen Gaben entkoppelt, sie setzt nichts voraus und setzt nichts hinterher. Das ist übrigens der Unterschied zwischen kostenloser, aber proprietärer Software als „Geschenk“ und Freier Software als Gabe. Ich hoffe, du magst es nehmen.

Ich habe erst begonnen, das Buch von Postone zu lesen. Ich weiß, noch nicht, wo es (mich) hinführt. Ob es für deine (und meine) Frage, „wie eine anarcho-kommunistische Gesellschaft ohne Geld-, Warenverhältnisse und Rechtsapparat (d.h. Staat) sich ausdehnen und bewähren“ kann, neue Anregungen liefert. Was bedeutet also Aufhebung von Produktion und Distribution unter den Bedingungen der Warenform konkret? Wie organisiert sich die freie Gesellschaft selbst? Ich weiß es nicht, ich glaube, niemand kann das wissen, da es dieses Wissen einfach noch nicht gibt. Aber wir können uns den Fragen, die da auf uns warten, annähern. Ich denke andauernd darüber nach, und versuche mich immer wieder dem schreibend zu nähern. Meistens in Auseinandersetzung mit – aus meiner Sicht – falschen Verabsolutierungen: entweder des objektiven ökonomischen Prozesses, dem alles untergeordnet ist oder den vielen Formen von Personalisierung und Ontologisierung, die letztlich in schrecklichen Menschenbildern gründen.

Das beste Beispiel für einen nichtwarenförmigen globalen Produktionszusammenhang ist immer noch die Freie Software. Es ist nach meiner Kenntnis das einzige „alternative“ Projekt jenseits von Ware, Markt und Staat, das gesellschaftliche Größenordnung erreicht hat. Natürlich stürzen sich jetzt „Ware, Markt und Staat“ auf dieses Projekt. Aber das Beispiel zeigt, dass der Kern der Vergesellschaftung die Selbstentfaltung des Menschen und nicht mehr der sich selbst verwertende Wert ist. Das Problem der Stabilität von Organisation, der Kontinuität und Verlässlichkeit gesellschaftlicher Infrastrukturen, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Regulation von Entwicklungswidersprüchen, der Installation vielstufiger Kreisschlüsse lokaler Produktionen usw. – das sind derzeit auch die heiß umstrittenen Themen im Oekonux-Projekt. Einige setzen auf die bruchlose Übertragung des Kopienprinzips (das Internet das globale Kopiermaschine) auf stoffliche Produkte mit Hilfe sogenannter Fabber (die aus dem RapidPrototyping kommen); andere sagen, dass der informationale Anteil an der Produktion den stofflichen Umsatz immer mehr verdrängt, wodurch die Copyleft-Prinzipien gesellschaftlich verallgemeinert werden können etc.

Kennst du meine „Überlegungen zur Konstitution einer neuen Form der Vergesellschaftung“? Ich meine, das war der Aufsatz, nach dem Thomas Schaffroth mich für dich gefragt hat. Die „Überlegungen“ sind im ersten Teil des Streifzüge-Beitrages „Zur Theorie des Informationskapitalismus“. Am Rande: Ich unterscheide nicht zwischen Informations- und Wissensgesellschaft, das sind für mich Synonyme. Ich verwende ersteren Begriff lieber, wenn es mir um den ökonomischen Informationssektor geht, den zweiten Begriff, wenn ich den Blick auf die ganze Gesellschaft richten will.

Das ist auch ein langer Brief geworden. Ich hoffe, du hast Freude mit dem Buch – was ich auch für mich hoffe, denn ich kenne es ja noch nicht. Aber das Inhaltsverzeichnis macht neugierig.

Herzliche Grüße

P.S. Ich hoffe, mit den Streifzügen und dem „Manifest“ hat alles geklappt.


27 Die Plattform open theory existierte von 2000 bis 2010, vgl. www.opentheory.org.

28 John Holloway (*1947), irisch-mexikanischer Politikwissenschaftler an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (BUAP) in Puebla/Mexiko.

29 Klaus Holzkamp (1927-1995), deutscher Psychologe, Begründer der Kritischen Psychologie.

30 Moishe Postone (*1942), deutsch-amerikanischer Historiker, Philosoph und Ökonom. Das Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ (2003) lag dem Brief bei.

Veröffentlicht in Briefe