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17.12.2003: Franz Schandl an André Gorz

Wien, am 17. Dezember 2003

Lieber André Gorz,

danke nicht nur für ihren interessanten, sondern auch sehr liebenswürdigen Brief samt Spende und Zuspruch. Was soll ich sagen? Nun, es freut mich sehr. Ich hoffe, die neuen Streifzüge und die krisis 24 sind bei Ihnen angekommen. Ich wünsche eine anregende Lektüre. Wenn Sie bestimmte Ausgaben dieser Zeitschriften haben wollen, schicken wir sie Ihnen gerne zu.

Dass Sie das mit der Dualwirtschaft heute anders sehen, freut mich. In meiner Zeit bei den österreichischen Grünen (1982-1986) wurde jene von den eher rechteren Teilen gegen die Linke propagiert. Die Linken (inklusive mir) waren damals aber auch orthodoxe und beschränkte Arbeiterbewegungsmarxisten.

Als Ihr „Abschied vom Proletariat“32 hier erschienen ist, waren wir (1980 war ich ein junger Trotzkist, gerade 20 Jahre alt) natürlich dagegen. Da vergriff sich einer direkt an der Arbeiterklasse und an der Arbeit. Das war eine Schändung unserer Glaubenspartikel. Heute denke ich, dass dieses Buch entscheidend mitgeholfen hat, eine neue Tür aufzumachen und den Horizont, was Emanzipation heißen kann, eindeutig erweitert hat. Im Kapitel „Das Proletariat als Kopie des Kapitals“ heißt es ganz zurecht: „Gegen das Kapital setzt das Proletariat affirmativ gerade als das, was das Kapital aus ihm gemacht hat. Anstatt ihre totale Enteignung zu verinnerlichen, um dann auf den Trümmern der bürgerlichen Welt als Eroberer der universalen proletarischen Gesellschaft zu agieren, verinnerlichen die Proletarier ihre Enteignung, um ihre totale Abhängigkeit zu bekunden und ihren totalen Unterhalt zu fordern. Weil ihnen alles genommen wurde, muss ihnen alles gegeben werden; weil sei keine Macht haben, muss die Macht ihnen alles geben; weil ihre Arbeit von Nutzen nur für die Gesellschaft ist, nicht für sei selbst, muss die Gesellschaft für ihre sämtlichen Bedürfnisse aufkommen, jede Arbeit mit Lohn vergüten. Anstatt die Lohnarbeit abzuschaffen, fordert das Proletariat die Abschaffung jeder nicht mit einem Lohn bezahlten Arbeit.“ (S. 31 der EVA-Ausgabe.)

Die Bedeutung solcher Überlegungen ist mir erst Anfang der 90er-Jahrte so richtig bewusst geworden. Selbstverständlich stehen auch Ihre anderen Bücher in meiner Bibliothek. Und sie stehen nicht nur im Regal. Was ich immer sehr geschätzt habe, war, dass die ausgezeichnet und spannend formulieren, abseits der unerträglichen soziologistischen Schreibe, eines Jargons, der vor allem im Deutschen so vieles ungenießbar, ja oft unlesbar macht. Ich habe manchmal das Gefühl, ich vertrockne, wenn ich das lese. Es ist Lektüre jenseits der Lust. Ihre Sachen hingegen sind – man mag im einzelnen davon mehr oder weniger halten – in höchstem Maße lebendig. Wann immer ich einen Gorz zur Hand genommen habe, habe ich gewusst: fad wird mir jetzt nicht.

Das ist übrigens auch der Anspruch an all meine Artikel (Bücher schreiben kann ich mir leider nicht leisten): Sie sollen anregen und nicht unberührt lassen. Indifferenz ist dem Leser nicht gestattet. Und der Anspruch ist kein geringer, die Streifzüge sollen sich jedenfalls von dem obligaten linken Zeitschriften unterscheiden, inhaltlich, aber auch formal.

In welchem Verlag erscheint übrigens Ihr neues Buch? Ich würde mich gerne um eine Rezension kümmern, vielleicht auch in der Süddeutschen.

Sollte es Sie mal wieder nach Wien verschlagen, würde es mich sehr freuen, Sie auch persönlich kennen zu lernen. Ich hoffe, es geht Ihnen und den Ihren gut.

Mit besten Grüßen

Franz Schandl


32 Vgl. André Gorz 1980a.

Veröffentlicht in Briefe