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28.03.2004: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 28.3.2004

Lieber André,

es freut mich sehr, dass dir mein Beitrag in Widerspruch 45 gefallen hat! Vielleicht verwundert es dich, dass sich der Aufwand für mich in Grenzen hielt – eigentlich hatte ich nicht die nötige Zeit, die mir erforderlich schien. Doch gleichzeitig steckt viel „Arbeit“ in dem Aufsatz, nämlich die Denkarbeit „des Netzes“ (in diesem Fall v.a. die im Rahmen des Oekonux-Projektes). Es ist also beides: das Entwickeln gesellschaftlicher Gedankenformen im Netz und die individuelle „Arbeit der Zuspitzung“. Das sind für mich zwei Stadien eines Prozesses, der nicht abgeschlossen sein kann: die breite theoretische Suchbewegung im Netz und die individuelle begriffliche und literarische Fixierung, die wiederum eingeht in die breite Suche.

Ich will die Bedeutung des Netzes nicht überhöhen. Auch vor dem „Zeitalter des Netzes“ und außerhalb davon fand und findet das Gleiche statt wie „im Netz“. Jeder Autor und jede Autorin bezieht sich auf die niedergeschriebenen Gedanken Anderer, explizit oder implizit. Ein Unterschied ist jedoch bedeutsam: Im Buch oder Aufsatz habe ich die „fertige Form“ eines Schaffensprozesses vor mir, während mir der „Zettelkasten“ (oder was auch immer), der dem Schaffen vorausging, verborgen bleibt. Das Netz hingegen ist nichts anderes als ein riesiger Zettelkasten, unsortiert noch dazu. Hier finde ich die unvereinbaren Gedanken roh nebeneinander anstatt geglättet und literarisch integriert aus einem Guss. – Ich stimme dir also zu, dass die literarische Ausarbeitung nicht im Netz stattfinden kann – obwohl selbst das versucht wird –, aber dennoch würde ich eben genau dieses Wechselspiel von breiter Suchbewegung und individueller Fixierung als höher vergesellschaftete Form des Schaffensprozesses bezeichnen. Die „alte“ Form würde ich jedoch nicht etwa im Gegensatz dazu „ungesellschaftlich“ nennen. Wir stehen immer auf den Schultern von Giganten und bewegen uns im gesellschaftlichen Möglichkeitsraum. Was gesellschaftlich nicht denkbar ist, was kein Teil der gesellschaftlichen Gedankenformen ist, kann auch individuell nicht gedacht werden. So gesehen ist das Netz nur eine neue Akkumulationsform gesellschaftlicher Gedanken.

Mit deinen Ausführungen zu Arbeitswert, Wertgrößen, Mehrwert und Tauschwert bin ich völlig einverstanden. Interessant finde ich, dass es eine Reihe von Ökonomen gibt, die sich mit der immer offensichtlicher werdenden Differenz von Reichtums- und Wertschöpfung befassen. Das war mir nicht bewusst. Mich interessiert, ob sie diese Differenz als Quelle einer fundamentalen Krise der gesamten Warenproduktion fassen, oder nur als „lokales Phänomen“ und auch, was sie als (vermutlich immanenten) Ausweg überlegen.

Negris „Marx jenseits von Marx“ muss ich mir einmal besorgen. Ich kenne es nicht. Postone hat es vielleicht nicht zur Kenntnis genommen, weil es im akademischen Kontext keine Rolle spielte? Dabei war Postone doch einige Zeit in Frankfurt/M. an der Uni. Den merkwürdigen Begriff „Selbstverwertung“ zunächst als „Selbstwertung“ zu lesen, ist ein guter Hinweis. Trotzdem ist das Herumschludern mit dem Wertbegriff ärgerlich.

Nun zu dem mir immer noch nicht verständlichen Argument der „Messbarkeit des Werts“ und seiner Krise. Mir ist nicht klar, warum mir das so unklar ist. Vielleicht gibt es hier noch eine tiefer liegende Differenz zwischen unseren Auffassungen. Mal sehen, ob wir diese freilegen können – oder ob ich hier nur immer noch etwas nicht begriffen habe.

Ganz allgemein kann ich dir zustimmen, denn es ist von jedem erfahrbar: Im Kapitalismus wird gerechnet, das Kalkül ist seine epistemische Form. So hat die Verkündigung eines Todesurteils einer Produktion die schlichte Form: „Es rechnet sich nicht“. Doch womit wird da gerechnet? Das sind doch die Tauschwerte, die sich gesellschaftlich-durchschnittlich in Preisen darstellen. Hier kann ich nicht erkennen, dass die Berechnung zusammenbricht. Du bringst vorher das Beispiel des Kunstmarktes: „Kunstwerke (erhalten) einen modisch und spekulativ bestimmten Geldwert“ – ja, genau! Jenseits einer realen Wertgröße, der Wertsubstanz, wird gerechnet, was der Markt hergibt. Dabei ist immer ein Teil „Fiktion“.

Hier nochmals ein Einschub zu „Wertsubstanz“: Ich habe im „Kapital“ nachgesehen. Marx verwendet den Begriff gleich im ersten Unterkapitel des ersten Kapitels [„1. Die zwei Faktoren der Ware: Gebrauchswert und Wert (Wertsubstanz, Wertgröße)“]. Inhaltlich ist demnach „Wertsubstanz“ der qualitative Begriff und „Wertgröße“ sozusagen seine quantitative Seite. In der Fußnote auf S. 55 heißt es: „Wir kennen jetzt die Substanz des Werts. Es ist die Arbeit. Wir kennen sein Größenmaß. Es ist die Arbeitszeit. Seine Form, die den Wert eben zum Tausch-Wert stempelt, bleibt zu analysieren.“ Der Wert hat also drei Dimensionen: Substanz, Maß und Form. Diese dürfen nicht vermischt werden.

Du schreibst „Der einheitliche Maßstab, der die Wertgrößen misst, ist letzten Endes immer der (Geld)wert.“ Letzten Endes – das bedeutet durchschnittlich über Zeit und Raum müssen Wertgrößen und Tauschwerte/Preise zur Deckung kommen. Faktisch tun sie es zeitlich und räumlich lokal wahrscheinlich höchst selten. Fortwährend finden „Ausgleiche“ der „gesellschaftlichen Wertbilanz“ (ein Hilfsbegriff von mir) statt. Wiederum dein Beispiel: Die Monopolrente wie z.B. die Informationsrente ist gesamtgesellschaftlich gesehen ein Wertausgleich: Der Monopolist saugt Wertsubstanz aus Bereichen, die sie zwar produzieren aber nicht als Tauschwerte realisieren können.

Mein Einwand lautet also in Kurzform: Gemessen und gerechnet wird auf der empirisch zugänglichen Ebene der Tauschwerte und Preise, was sich höchst selten mit der zugrunde liegenden Wertsubstanz deckt. Es ist also in meiner Sicht nicht so, dass „eine Ware ohne messbare Wertgröße … keine wirkliche Ware“ ist, da ohnehin niemals die „wirklichen“ Wertgrößen der Wertsubstanz gemessen werden, sondern nur die Tauschwerte. Dito gilt für die verausgabte Arbeitskraft. Auch hier interessiert nur der momentane Tauschwert (Lohn), der in der betriebswirtschaftlichen Rechnung nur einen Kostenanteil ist.

Du schreibst, der Tauschwert werde vorbestimmt und „die Produktion und Arbeit (müsse) sich an Preisvorgaben … orientieren, die für die Arbeitenden vorgegebene Ziele sind, die sie zu erfüllen haben.“ – Aber das war doch schon immer so! Der Markt diktiert den durchsetzbaren Preis, also den realisierbaren Tauschwert. Wenn du schreibst, dass sich der „Tauschwert … von Äquivalenzverhältnissen zu emanzipieren und subjektive Präferenzen widerzuspiegeln“ beginnt, dann hat das m.E. keine Auswirkungen auf seine Berechenbarkeit: Patente, Wort- und Bildmarken, Geschmacksmuster etc. haben ihren Preis und sind kalkulierbar (im übrigen auch die Herstellung der entsprechenden „Fälschungen“). Gerade die Kategorie des Tauschwertes verliert nicht ihre Geltung, sondern das immer weniger aufrechtzuerhaltende Verhältnis von Wertsubstanz mit schwindender Wertgröße und der Form des Tauschwerts.

Dem folgenden Satz kann ich wiederum zustimmen: „Eine andere Ökonomie zeichnet sich hinter der kapitalistischen ab, in der die Schöpfung von Reichtum sich von der Verwertungslogik befreit, in der die verrechenbaren, messbaren, verwertbaren Dimensionen der gesellschaftlichen Tätigkeit nicht mehr die sinnlich erfahrbaren, qualitativen Dimensionen und Beziehungen als ‚wertlos‘ disqualifizieren.“ Hier sprichst du die vorherrschende Erkenntnis- und Tätigkeitsform an: Arbeit. Die qualitativen Dimensionen und Beziehungen, also das, was die Negristen „affektive Arbeit“ nennen, können nicht in die Arbeitsform gebracht werden, weil sie nicht nur „wertlos“ sind, sondern sogar „wertverzehrend“. Auch hier sehe ich eher den inhaltlichen Aspekt der (verzehrenden) Wertsubstanz, der sich betriebsborniert als „Kosten“ und staatlich als „Ausgaben“ ausdrückt, die „einzusparen“ sind. Es ist auch heute schon so, dass nur noch in wenigen Betrieben wirklich die Arbeitszeit gemessen wird. Statistiken zeigen, dass die nominale Wochenarbeitszeit gesunken ist, während die reale stieg! Die aktuelle Debatte um die Verlängerung der Arbeitszeiten vollzieht also nur nach, was sich faktisch bereits vollzieht.

Das Krisenargument kann meiner Meinung nur darauf basieren, dass der Kapitalismus die Fähigkeit zum zeitlich und räumlich übergreifenden Ausgleich der „Wert-Disproportionalitäten“ verliert, weil die Wertsubstanz, die die unmessbare aber realabstraktive Grundlage der Warengesellschaft bildet, schwindet. Der Inhalt, die Wertsubstanz (quantitativ: die Wertgröße) rebelliert gegen ihre Form, die Wertform. Auf der Formebene kann also weiter gerechnet und halluziniert werden, während gleichzeitig die Substanz wegbricht. Das „Nichtaufgehen“ zeigt sich dann krisenhaft, z.B. beim Platzen der Spekulationsblasen.

Zum Abschluss eine Frage: Würdest du ein kurzes Geleitwort zur 3. Oekonux-Konferenz50 schreiben? Eine halbe bis eine Seite wäre völlig ausreichend. Das würde mich und sicher auch viele andere freuen! Die Konferenz findet vom 20.5. bis 23.5. in Wien statt. Ich lege das sog. „Call for Contribution“ und einen Entwurf eines Flugblattes bei, in denen die Inhalte skizziert werden.51

Vielen Dank wieder und wieder für deine Briefe!

Herzliche Grüße

(Stefan)


50 Vgl. dritte.oekonux-konferenz.de/

51 Vgl. dritte.oekonux-konferenz.de/einladung/call.html und dritte.oekonux-konferenz.de/einladung/einladung.html

Veröffentlicht in Briefe