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29.08.2004: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 29.8.2004

Lieber André,

es hat lange gedauert bis zu diesem Brief. Bei mir waren es glücklicherweise nicht Krankheit (ich hoffe, es geht dir und deiner Frau stabil gut!), sondern vor allem unschöne politische Auseinandersetzungen rund um die Krisis-Spaltung, in die ich nun doch hineingezogen wurde.63 Daneben dann noch eine nun bald dreimonatige Fassadendämmung am Haus (manchmal bin ich sehr unglücklich, dieses Haus geerbt zu haben…) und das große Software-Projekt, dass ich bei ver.di durchführe.64 Aber wirklich enttäuschend war die Krisis-Spaltung. Ich kann nur sehr schwer mit persönlichen Angriffen umgehen. Wie war das bei dir? Du hast sicher in der „Hoch-Zeit“ der linken Bewegung so Einiges erlebt oder erleben müssen? Was hast du bei persönlichen Angriffen gemacht?

Ich lege dir einen Artikel bei, den ich für die Wochenzeitung „Freitag“ geschrieben habe.65 In einer „Utopie-Reihe“ hat der „Freitag“ verschiedene Leute um einen Artikel gebeten. Von Franz Schandl kurz vor meinem Artikel66 und Ulrich Weiß kurz nach meinem Artikel67 wusste ich nichts als ich meinen Artikel schrieb – obwohl ich beide gut kenne und schätze. Uns drei hat nun Robert Kurz in einem sehr polemischen Artikel68 auf’s Korn genommen – als ob wir drei gerade die Hauptgegner in einer politischen Auseinandersetzung wären. Doch lies selbst. Ich war schon ganz schön erschüttert, zumal ich vorher zu Robert Kurz zwar kein inniges, aber doch sehr freundliches und solidarisches Verhältnis hatte.

Natürlich ist mir der Hintergrund halbwegs geläufig, obwohl ich nicht beteiligt war. Die Redaktion der Zeitschrift „Krisis“ hat per Abstimmung Robert Kurz vor die Tür gesetzt.69 Dem gingen wohl jahrelange Querelen voraus, vor allem um die Frage, mit welcher „Härte“ man auf politisch-ideologische „Gegner“ einschlagen solle. Robert Kurz war und ist stets für größtmögliche Härte, während die Mehrheit für mehr Diskussion plädierte. Nun ja, ein Rauswurf des „spiritus rector“ ist keine feine Sache. Robert Kurz und seine Anhänger bezeichnen es als „Putsch“. Ich kann nicht sagen, was es wirklich ist. So gibt es nun zwei wertkritische Projekte: „Krisis“ und „Exit“ (die neue Formation). Ist ja eigentlich auch kein großes Drama, manchmal muss man sich vielleicht trennen, um sich getrennt vielleicht weniger zu blockieren und produktiver zu sein. Das setzt aber einen halbwegs solidarischen Umgang voraus. Nun werden aber von der Exit-Gruppe diejenigen, die sich nicht zuordnen wollen – ich war nie im Krisis-Verein – zum Bekenntnis aufgefordert nach der Logik „Bist du nicht für uns, bist du gegen uns“. So was Dummes.

Entschuldige, wenn ich dich damit langweile, aber ich bin das einfach nicht gewohnt, und ich will mich eigentlich an so einen Umgang auch gar nicht gewöhnen. Ich will das auch gar nicht personalisieren, es sind genauso Krisenphänomene wie so vieles anderes auch. Warum sollen Linke davon verschont bleiben, es sind eben nicht sui generis bessere Menschen.

Noch ein paar Gedanken zum Thema der Messbarkeit und der Wertform. Du verwendest den Begriff „Eigenwert“ (übernommen von Lazzarato/Tarde) in Abhebung vom „Tauschwert“, ja, geradezu als Gegenbegriff. Ich verstehe ihn so, dass damit ganz weit gefasst alles Nützliche und Schöne gemeint ist, das noch nicht Wertform angenommen hat, weil es nicht für den Tausch „produziert“ wurde. Trotzdem kann es natürlich vom Kapital angeeignet und in Warenform gebracht werden. Marx, wenn ich es richtig sehe, verwendet hierfür den Begriff der „formellen Subsumtion“. Das Kapital trachtet nun jedoch danach, Nützliches nicht nur einfach anzueignen und ihm die Warenform überzustreifen, sondern es als Ware zu produzieren, es in den Verwertungszyklus G-W-G‘ einzugliedern. Das nennt er dann „reelle Subsumtion“. Hier habe ich immer das Beispiel der Handwerker im Kopf, die der Manufaktur-Besitzer in eine Manufaktur setzt und ihre Produkte aneignet, die die Handwerker in gleicher Weise herstellen, als ob sie als selbstständiger Handwerker arbeiten würden (formelle Subsumtion). Das sinnlich gleiche Produkt wird Ware in der Hand des Manufaktur-Besitzers. Mit dem Übergang von der Manufaktur zur Industrie wird nun die Arbeit nach den Maßstäben der Verwertungslogik G-W-G‘ organisiert, die Produkte werden als Waren für den Tausch hergestellt, die Arbeit dem untergeordnet (reelle Subsumtion).

Haben wir es bei den „Eigenwerten“ mit solchen Dingen zu tun, die stets nur formell subsumiert können, niemals aber reell? Also mit „eigentlich Nicht-Waren“, denen erst durch private Aneignung Warenform übergestülpt wird? Das Eigentümliche dieser „genuinen Nicht-Waren“ wäre demnach, dass – da sie nur außerhalb der Verwertungslogik hergestellt werden können – der Kapitalismus die „wertlosen“, nicht reell subsumierten Bereiche wie Wissenschaft, öffentliche Infrastrukturen, Bildung etc. bei Strafe des Untergangs aber dennoch braucht. Gleichzeitig drängt er dazu, diese Bereiche in die Verwertung einzuverleiben – was wir derzeit z.B. als Privatisierung öffentlicher Aufgaben erleben –, weil dort reale Geldströme durchlaufen, wenngleich sie gesamtgesellschaftlich nach wie vor „wertsubstanz-verzehrend“ wirken, also alimentiert oder letztlich von jedem Einzelnen bezahlt werden müssen. Ein Selbstwiderspruch, der das warenförmige System zersetzt. Um so wichtiger wäre der Aufbau von nicht-wertförmigen Infrastrukturen, die zwar anfangs alimentiert werden, sich aber langfristig abkoppeln müssen. Leicht gesagt.

Ich stimme dir also zu: Der Tauschwert, oder besser: die Wertform, verselbstständigt sich gegen ihren Inhalt. Alles, buchstäblich alles, wird vermarktbar gemacht. Doch damit werden nur Geldströme umgeleitet und keine neue Wertsubstanz aufgebaut. So gesehen ist der private Zugriff auf die Infrastrukturen der Gesellschaft ein Krisensymptom – und nicht etwa eine Maßnahme zu effektiveren Ressourcen-Bewirtschaftung.

Diesem Brief liegen verschiedene Texte bei, für die du vielleicht Interesse hast und Muße findest. Zunächst die vier „Freitag“-Aufsätze, von denen ich oben schrieb. Dann, wie von dir gewünscht, ein längerer Text von Franz Nahrada „Globale Dörfer und Freie Software“ aus der Zeitschrift „Utopie kreativ“ (PDS-nah).70 Und noch ein älterer Text von Franz Nahrada auf englisch, ein Referat bei einer UN-Konferenz.71

Herzliche Grüße

(Stefan)


63 Nach der Spaltung der Krisis im Frühjahr 2004 gründete die Gruppe um Robert Kurz ein neues Projekt mit der Zeitschrift EXIT. Die Ursachen für die Spaltung wurden mit persönlichen Zerwürfnissen (Krisis) und theoretischen Differenzen (EXIT) unterschiedlich angegeben.

64 Stefan Meretz arbeitete von 1995 bis 2014 bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di).

65 Vgl. Stefan Meretz 2004.

66 Vgl. Franz Schandl 2004a.

67 Ulrich Weiß (*1948), deutscher Philosoph, vgl. Ulrich Weiß 2004.

68 Vgl. Robert Kurz 2004.

69 Die Abstimmung fand im Krisis-Verein statt, nicht in der Redaktion der Zeitschrift Krisis.

70 Vgl. Franz Nahrada 2002.

71 Vgl. Franz Nahrada 1996.

Veröffentlicht in Briefe