Wien, am 6. September 2004
Lieber André Gorz,
danke für die Druckfahnen, sie sind soeben angekommen, und ich setze mich gleich mal drüber. Die WOZ in Zürich hat sich bereits an einer Rezension interessiert gezeigt, und in der Süddeutschen habe ich auch schon angefragt. Dort hat es allerdings einen Wechsel in der Zuständigkeit gegeben. Wir werden sehen. Auf jeden Fall werde ich mich bemühen, die Verbreitung des Buches zu fördern – wir, die Streifzüge, werden’s als Empfehlung auf unsere Homepage stellen etc.-
Auch ich wechsle jetzt vom unpersönlichen „Sie“ ins intimere „Du“. Lieber André, das erste Mal, wo ich bewusst auf einen Text von Dir gestoßen bin, war 1980, da erschien in der Zeitschrift „Technologie und Politik“ der Aufsatz „Das Ende der Politik der Vollbeschäftigung“ (mit so tollen Zwischentiteln wie „Das Goldene Zeitalter der Arbeitslosigkeit“).72 In meiner jungbiederrradikalen Marxistenseele sträubte sich einiges, aber es rührte mich an, ja wühlte mich auf. Es ist schon interessant, was dazumals in den großen deutschen Verlagen veröffentlicht worden ist, heute wäre eine ähnliche Zeitschrift bei Rowohlt unmöglich. So ändern sich die Zeiten. Es hat mich daher auch 2000 etwas gewundert, als „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ in der Edition Zweite Moderne bei Suhrkamp publiziert wurde.73 Ich finde diese von Beck herausgegebene Reihe eigentlich unsäglich, vielleicht hast Du ja meinen bösen Verriss betreffend Anthony Giddens74 gelesen. Da ist nicht viel dahinter, wie überhaupt Suhrkamp und die anderen großen Verlage ein ziemlich mieses Gesamtprogramm vorlegen.
Das mit der „Presse“ hat mich hingegen nicht überrascht, ich habe mir gedacht, dass Dein Verlag denen (oder anderen Medien) einen Auszug aus dem Buch angeboten hat (ein Hinweis auf Dein neues Buch findet sich übrigens sehr wohl in der Ausgabe). Die relativ unabhängige Wochenendbeilage „Spectrum“ ist Teil der konservativen „Presse“, versucht aber auch kontinuierlich gegenzusteuern. Ich kenne die drei zuständigen Redakteure und kann ihnen nichts Nachteiliges nachsagen. 1996-1998 haben sie sich redlich bemüht, mich regelmäßig im „Zentralorgan der Bourgeoisie“ zu Wort kommen zu lassen, solange, bis der Chefredakteur der Zeitung mich ihnen wegen kommunistischer Umtriebe untersagt hat. So bin ich also ein explizit in der „Presse“ verbotener Autor, wie mir der Leiter des „Spectrums“ etwas zerknirscht mitteilte.
Mit Texten wie dem Deinen versuchen sie durchaus dem neoliberalen Irrsinn des eigenen Organs entgegenzutreten. Ich würde Dir zwar raten, nachfragen zu lassen, wie sie zum Text gekommen sind (außerdem sollen sie ruhig ein Honorar zahlen), aber abraten, dich offiziell (gar bei der ultrakonservativen Chefredaktion) über die doch halbwegs aufgeschlossene Beilagen-Redaktion zu beschweren.
„Nie mehr Wien“, lieber André, das klingt wirklich recht traurig, aber es muss ja nicht umgekehrt „Nie nach Vosnon“ heißen. Auch ich würde dich gern kennen lernen, und vielleicht verschlägt’s mich (der ich leider nie Französisch gelernt habe) mal wieder zu meinem Freund Wolfgang Kukulies nach Paris, dann könnte ich ja einen Sprung vorbeikommen. Natürlich, nur wenn Du willst und es Dir möglich ist, ich möchte mich nicht aufdrängen. Danke auch für Deine Telefonnummer, meine steht ebenfalls am Briefkopf.
Erich Hörl kenne ich nicht so gut wie du meinst, er lebte mit dem Bruder meiner ehemaligen Lebensgefährtin in einer Wohngemeinschaft, daher habe ich ihn einige Male getroffen. Das ist fast fünfzehn Jahr her. Ich kann mich aber noch gut an das Kurswechsel-Interview erinnern, das er mit Dir gemacht hat.75 Heute scheint er von seinen damaligen Positionen sehr weit weg zu sein. Aber allzu viel kann ich zu ihm nicht sagen. Eines seiner Hauptanliegen dürfte darin bestehen, den falschen Alarmismus in der Gesellschaft zu kritisieren, um dann – so sehe ich es – in der falschen Beschwichtigung zu landen.
Nur weil die mediale Anmache sensationslüsterne und irre Behauptungen in die Welt setzt, ist nicht zu schließen, dass alles Reden über Krise Krisengeschwätz sei. So aber kommt es rüber. So fungiert der gute Erich als Stichwortgeber für Leute wie den Zukunftspropagandisten (und Ex-Sponti) Matthias Horx76. Da wird jede Krise eskamotiert. Die Lage ist toll, und die Stimmung hat es gefälligst auch zu sein. Natürlich gibt es falschen Alarmismus, aber mit Günther Anders77 glaube ich, dass eines der Grundprobleme unserer Zeit vielmehr die „Apokalypseblindheit“ ist, dieses ewige positive Denken, dass uns dazu verdammt, auch die größten Ungeheuerlichkeiten zu akzeptieren, ja ihnen gar Gutes abzugewinnen.
„Metakritik des Tauschs“? – ach du wunder Punkt. Natürlich will ich und ich bilde mir auch ein, dass ich es könnte. Unter meinem Schreibtisch stehen die Ordner und Materialien, ja eigentlich sollte ein Buch daraus werden. Da gibt es noch mehr zu sagen, noch tiefer zu schürfen, die Analyse noch auszuweiten, da gibt’s ein Kapitel zu „Sprache als Tausch“, eines zur „Theorie und Ideologie der Sonderangebote“, und einen optimistischen Ausklang über „das Schöpfen“. Alleine wenn ich meine Notizen ansehe, bin ich immer ganz entzückt, aber auch traurig. Derweil sind da noch zwei weitere größere Projekte anhängig: eines über den STAU (vgl. Die Verunglückungen des Komparativs, Streifzüge 1/2001) und eines zur Geschichte der abendländischen Politik.78
Es scheitert nicht an mir, sondern an meinen Lebensumständen. Kurzum, ich verfüge nicht über die materiellen und zeitlichen Ressourcen. Ich bin nämlich absolut nicht abgesichert und daher gezwungen mich schlecht und recht als Journalist wider Willen zu verdingen. Das ist manchmal nicht unspannend, aber auf die Dauer doch ärgerlich, wenn man etwa von sich behaupten kann, schon 17 Artikel über den österreichischen Bundeskanzler geschrieben zu haben. Aber da, also hier bei mir, gibt es einige Kinder (ich möchte sie keine Minute missen, vermisse eher die Minuten, die wir vermissen müssen; heute hat meine Jüngste in der Schule angefangen), meine Freundin, tja und so hat einen der Alltag und die Reproduktion überdimensional in Beschlag genommen.
Selbstverständlich gehöre auch ich zur „Nichtklasse der Nichtarbeiter“. Aber ich werde schauen, was sich machen lässt, nur zu diesen Werken brauche ich auch (nicht nur, aber eben auch) Distanz, Ruhe und Abgeschiedenheit, vor allem aber keine lästige Lohnarbeit, die das Denken und Schreiben immer wieder unterbricht. Manchmal ist es hier finanziell sehr eng und die Enge schlägt auf die Laune der Beengten.
Aber ich will Dich nicht ansudern, schließlich mache ich vieles, was ich für wichtig und richtig empfinde, und eigentlich fällt mir niemand ein, mit dem ich tauschen möchte, abgesehen davon, dass ich sowieso nicht tauschbar wäre. Anpassen wäre tödlich, auch wenn eins hundert Jahre wird. Negativ denken, aber positiv wollen, fühlen, handeln – so ungefähr könnte man meinen Leitspruch (falls so etwas Sinn macht) zusammenfassen.
Nun ist das ganz unabsichtlich ein recht persönlicher Brief geworden, ich hoffe, Du kannst damit was anfangen. Mitte Oktober schicken wir Dir die neue Ausgabe der krisis zu und Ende November erscheint die nächste Nummer der Streifzüge. Wir liefern regelmäßig und sollten uns bei Formalitäten (Trafoclub, Spenden…) nicht aufhalten.
Schön dich zu lesen, aber auch schön von Dir zu lesen.
Mit herzlichen Grüßen
(Franz)
P.S.: Was ich übrigens (neben der guten Lesbarkeit) immer sehr geschätzt habe an Deinen Publikationen, war, dass Du zwar einerseits den Anspruch auf systematische Analyse erhoben, andererseits aber nie strikt eingehalten hast. So sind dann stets einige Stücke(„Trümmer“) übriggeblieben, die Du in den Gesamttext nicht einbauen konntest oder einbauen wolltest, die Dir aber zumindest so wichtig erschienen, dass Du sie nicht weglassen oder gar wegwerfen wolltest. Daher finden sich wohl immer wieder die Gorzschen Anhänge. Kein Gorz ohne Anhang. Sollten noch wo so Anhänge herumliegen, dieStreifzüge stehen Dir als Publikationsort jederzeit offen.
72 Vgl. André Gorz 1980c.
73 Vgl. André Gorz 2000.
74 Anthony Giddens (*1938), britischer Soziologe.
75 Vgl. Erich Hörl 1990.
76 Matthias Horx (*1955), deutscher Publizist und Unternehmensberater.
77 Günther Anders (1902-1992), österreichischer Philosoph, Dichter und Schriftsteller.
78 Vgl. Franz Schandl 2001b und 2001a.