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28.10.–02.11.2004: André Gorz an Franz Schandl

Vosnon, 28. Oktober – 1. November 2004

Lieber Franz,

Vielen Dank für Deinen Versuch beim Freitag. Sie wollen ein Gespräch. Da ich ein miserabler „Sprecher“ bin, und ohnehin alles Gesagte neu schreibe, wenn es mir vom Gesprächspartner schriftlich vorgelegt wird, haben wir uns auf ein schriftliches „Gespräch“ geeinigt. Hoffentlich gelingt es mir, etwas Sinnhaftes zu sagen/schreiben. Ich habe ja schon vergessen, was ich im Buch geschrieben habe. Der Gedächtnisschwund ist verheerend.

Eigentlich habe ich wiederholt versucht, Dir über den „wunden Punkt“ Metakritik des Tauschs und weitere Projekte zu schreiben. Ich glaub(t)e mitzufühlen, was es heißt, mit einem ungeborenen „Kind“ im Bauch weiterzuleben. Ich hätte es unerträglich gefunden. Es wirkt wie ein schwarzes Loch, dachte ich, dass alle Freuden im Leben einsaugt, zumindest teilweise, und den nächtlichen Schlaf mit allen möglichen Figuren des Scheiterns und der Trauer durchtränkt.

Allerdings, sagte ich mir dann, sind wir aber sehr verschieden. Ich wurde ab meinem 17. Jahr ein neurotischer Schreiber, der seine Existenz – alle Erfahrungen, Regungen, Gefühle – wegzuschreiben bemüht war, d.h. als Rohmaterial der Schreibtätigkeit behandelte und sich auf diese Weise von der Existenz (von sich) abspaltete. Nichts anderes galt. Meine Frau (Dorine, ohne die ich nichts wäre) zog zu mir in einer Zeit, als ich hoffnungs- und zukunftslos („heimatlos“ und ohne die immer so wichtigen Papiere wie Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung) in einem winzigen Zimmer ohne Wasser und Heizung lebte und teilte, frohen Sinnes, die Misere in der Zuversicht, dass mein Wegschreiben meiner Existenz schließlich in ein sich-in-die-Existenz-Zurückschreiben umkippen würde. Ohne sie wäre das sicher nicht geschehen.

Nun bist du aber, glaube ich, ein grundverschiedener Schreiber und Mensch. Das Schreiben scheint mir bei Dir mit richtiger Freude am Leben und am Handeln verbunden, es ist ein Handeln, nicht ein Mittel zu letzterem, also Selbstzweck. Die Streifzüge sind an sich ein Projekt, das lebensfüllend sein könnte und inwieweit es mit Deinen theoretischen-philosophischen Projekten konkurriert, bzw. sie in sich aufsaugt und in kleinen Scheibchen restituiert, ist eine Frage, die gestellt werden muss.

Übrigens frage ich mich immer, wenn ich Dich lese, wo und wann und wie Du dieses ungeheure Wissen akkumuliert hast. Du gibst immer den Eindruck, die Themen, die Du behandelst, ganz zu beherrschen und viel mehr zu wissen und zu denken, als das, was Du schreibst, und Spaß damit hast, Bruchteile Deiner Gedanken in Schwung und Distanz zu ihnen aus Deiner Feder (oder Deinem Computer) zu schütteln.

Die erste Frage, die ich mir/Dir stelle, ist aber folgendes: Was wäre nötig, damit Du über die „materiellen und zeitlichen“ Ressourcen“ verfügst, die Dir die Ausarbeitung Deiner oder zumindest des ausgereiftesten Deiner Projekte erlauben? Die materiellen Ressourcen (Geld) sind sicher unbedingt nötig und es sollte nicht unmöglich sein, sie zu erhalten. Genügen würden sie wahrscheinlich nicht. Ich würde davon ausgehen, dass Dir eine Stiftung oder ein „Förderkreis der Projekte Franz Schandls“ ein (wie hohe) Summe zur Verfügung stellt und fragen: Was sonst wäre nötig, um Dir 2-3 Stunden freizumachen? Über welche Zeitspanne? Und was dann, um zu verhindern, dass die gleichen Umstände wie heute wieder eintreten? Können wir darüber reden?

Wenn ja, und Du anlässlich eines Besuchs in Paris auch bei mir vorbeikommst, würde ich für die Reisespesen gerne aufkommen.(1) Wenn ich verschiedene Anspielungen verstehe, sollen die Streifzüge sich zu einer Monatszeitschrift entwickeln (später vielleicht zu einer Wochenzeitung?) und sich inhaltlich stärker ausdifferenzieren.

In letzter Zeit habe ich öfters in alten Nummern herumgestöbert. Dabei fiel mir wieder der meiner Einschätzung nach hervorragende Artikel von Volker Hildebrandt auf (Weg und Ziel 1/1999). Derartige Artikel, die die Darstellung und Analyse von Geschehnissen oder Experimenten mit Theorie und Kritik verbinden, also von anderen Gesichtspunkten her beleuchten und analysieren, ohne dass Kritik in Polemik und Verwerfung sofort ausufert, vermisse ich. Sowie das Anknüpfen kritischer Theorie an die faktische Entwicklung u.a. auf sozial-kulturellem(2) und ökonomisch-konjunkturellen Gebiet. Die Weiterentwicklung von kritischer Theorie muss irgendwie von faktischen Entwicklungen gespeist werden, sonst kommt sie nicht weiter und beißt sich in den Schwanz. Kurz: Wie entwickelt sich die Krise weiter? Was macht Theorie verständlich und was bleibt ohne sie unverständlich?(3) Da bin ich doch wieder ein Journalist.

Anregendes fand ich in Kurz’ Artikel in den Streifzügen 2/2003, S. 23, wo von sekulärer Entwertung und vom „obsolet Werden der abstrakten Arbeit“ (und folglich des herkömmlichen Wertbegriffs) die Rede ist. Letzterer greift nicht mehr so gut wie früher. Allgemeine Arbeit, General Intellect sind nicht auf abstrakte Arbeit rückführbar und kein ordinäres Kapital, zehren (ebenso wenig wie die positiven Externalitäten) von der Wertsubstanz und tragen, insoweit sie sich produktivitätssteigernd auswirken (wie der General Intellect) zum Abschmelzen der Wertsubstanz bei. Oder nicht? (Es scheint diesbezüglich eine Kontroverse in der krisis-Gruppe zu geben.) Was meinst du?

Dann fand ich im Kurz-Artikel eine leider nur sehr kurze Bemerkung über die „strukturelle Überakkumulation“, ohne weitere Angaben. In den Beiträgen von Lohoff und Trenkle kommt die Idee (nicht aber der Begriff) der strukturellen Überakkumulation wieder, auch ohne weitere Angaben (siehe Dead Men Working, S. 71-73 und S. 33): „Der strukturelle ökonomische Grund dieser Entwicklung ist schlicht die stockende Akkumulation des Kapitals, die (…) nicht mehr auf realökonomischer Grundlage in Gang kommen kann (…).“ Die „Entwicklung“ von der es sich handelt, ist steigende Staatsverschuldung in den USA (und Auslandsverschuldung würde ich hinzufügen). Dass in den USA Konsumkredite und Spekulationsblasen die Akkumulation zu stützen suchen, wissen wir schon. Dass sie aber dennoch eine Überakkumulation in Gang halten, kann sich damit nicht erklären. Letztere hat scheinbar fantastische Proportionen erreicht. Die 374 Firmen des Standard&Poor Index verfügen über 555 Milliarden Reserven, Microsoft allein über 60 Milliarden, zu der jährlich 11 weitere hinzukommen. Die Selbstfinanzierungsrate beträgt in den USA 115%, in Deutschland 110% (Frankreich 95%, Japan 130%). Dabei schütten die Firmen in den USA wie in Europa weiter 15% Dividenden aus (Frankreich 12%, +1% jährlichen Zuwachs) und suchen krampfhaft nach Verwertungsmöglichkeiten ihres (Finanz)Kapitals, die mindestens die gleichen fantastischen Renditen gewährleisten. So erklärt sich der „Selbstkannibalismus“, den Lohoff und Trenkle beschreiben.

Die Daten, die die Überakkumulation belegen, sind in den obigen Beiträgen nicht angegeben. Auch bleibt eine Erklärung darüber aus, wie u.a. auch in Europa, namentlich in Deutschland, noch nie da gewesene Profitquoten zustande kommen. Konsumentenkrediten und Exportüberschüsse – d.i. Geldimporte – sind keine genügende Erklärung. Woher rührt die (fortschreitende) Überakkumulation bei schwindender Kaufkraft und Beschäftigung der Erwerbsbevölkerung und in Abwesenheit namhafter Staatshaushaltsdefizite?

Weiter: Warum ist ein Rückgriff auf keynesianische Umverteilungs- und Fiskalpolitik ausgeschlossen, und machen wir uns über die Leute lustig, die behaupten „Geld ist genügend da“? Wir haben da ein kitzliges Problem. Wir müssten beweisen, dass keynesianische Politik nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch unmöglich ist(4), um den Glauben zu zerstören, dass sich der Kapitalismus doch noch retten ließe. Wir wollen ihn weder retten noch sozialpolitisch stärken. Wir wollen, dass sein zukünftiger Zusammenbruch der Sinn, das Ziel, der Horizont unserer Handlungen sei. Aber wir dürfen zugleich nicht all die Menschen entmutigen und vor den Kopf stoßen, die gegen den Sozialabbau und die private Kapitalisierung des Gemeinwesens Widerstand leisten (wollen). Wir wollen einen antikapitalistischen Widerstand, nicht einen erfolgreichen.

Da haben wir wieder die Antinomien, die in den Fünfzigerjahren die europäischen KPs fähig machten, Massen zu mobilisieren, aber damit nichts anzufangen wussten, die Aktionen müssen hoffnungsreich erscheinen, um stattzufinden, und hoffnungslos erscheinen, um sich zu radikalisieren. In den späten 50er-Jahren fand ich mit den „revolutionären Reformen“ einen Ausweg aus dieser Klemme. Dafür gibt es heute keine Vorbedingung mehr. Die einzige ausgesprochen antikapitalistische Bewegung, die sich effektiv in einen frontalen Konflikt mit der Kapitallogik umzusetzen versteht, ist die Freie Software-Bewegung (zum Teil zumindest). Ob Selbstversorgungskooperativen sich zu einer Bewegung entwickeln können, bleibt noch fraglich (ich war erleichtert zu sehen, dass sie Norbert Trenkle 1995 nicht prinzipiell verworfen hat; und Hildebrandt Jahre später auch nicht.)

Die Zukunft sollte der Umsonst-Ökonomie gehören (Existenzgeld als Umsonst-Geld begreifen, weist geradezu auf eine geldlose Umsonst-Ökonomie hin), ich möchte glauben, dass wir in den nächsten Jahren immer von ihr hören werden. Deshalb scheint mir Deine Metakritik so wichtig und dringend.

Der zweite Abschnitt des Editorials in krisis 28 kommt meinen kritischen Bemerkungen und Ängsten zuvor: namentlich der letzter Absatz Seite 9–10 und der zweite Absatz auf S. 10: „dass das diskursive Moment bei der Theorieverarbeitung und -präsentation künftig stärker zur Geltung kommen soll“. Wenn alle über alles einig erscheinen wollen, verlieren sie die kritische Distanz zu sich selbst. Auch das führt durch Selbstabgrenzung zur Sektenbildung.

Lieber Franz, ich kommen nicht mehr nach Wien, weil meine Frau ein Herzleiden hat(5), das mich beängstigt und ich sie keinen Tag allein lassen will. Sie ist übrigens auch reiseunfähig (Luftreisen sind ausgeschlossen). Und schließlich, ich war in Wien nie zu Hause. Bin in der Ober-St.Veit aufgewachsen und kam nie in die Innere Stadt, in das Kunstmuseum, die Sezession usw. Meine Familie war ganz „ungebildet“, was ich heute von Wien weiß, habe ich in Paris erfahren und dann sehr spät als Tourist besichtigt.

Ich hoffe, Du wirst mit diesem Brief fertig und kommst uns besuchen.

Liebe Grüße

André

2.11.

wieder ein Anhängsel:

Heute kommen Deine lieben Zeilen mit 2 x Weg und Ziel (eins davon habe ich oben zitiert, bevor das 2. Exemplar kam). Da erinnere ich mich: Zu Dead Men Working wollte ich bemerken, dass Lohoffs berechtigte Kritik der „Dualökonomie“ offensichtlich (auch) auf einige meiner Schriften trifft, er aber seine Kritik eher freundlich formuliert und es unterlässt, Namen zu zitieren. Das Gleiche gilt für Exners Beitrag zu Attac. Beide vermeiden es, Andersdenkende zu Feinden zu stilisieren, wo man doch vielleicht noch hoffen kann, sie für ein Umdenken zu gewinnen. Exners Beitrag stellt die gleichen Fragen wie ich hier S. 5. [gemeint ist weiter vorne im Brief]

Anhänge: Meine Schubladen sind leer von unveröffentlichten Texten. Was ich in letzterer Zeit schrieb (für die Festschrift für Oskar Negt, für die Jesuitenuniversität in Südbrasilien) hat nicht das hohe (akademische) Niveau Deiner Zeitschrift(en), versucht aber, Theorie für die Studenten in ihrer Anfangszeit verständlich zu machen, d.h. zu veranschaulichen. Interessieren könnte dich vielleicht ein Auszug zum Thema „Selbstausbeutung“, der Teil eines in „Multitudes“ erschienen Gespräch ist. Umfang ca. 4 Seiten.(6) Der Artikel von Jerry Unseem „Welcome to the near company town“(7) kann im Internet abgerufen werden. Quelle: Fortune (N.Y.), Jan, 10, 2000, vol. 14, p. 52-68.

Soeben kam ein Fax von Ulrike Baureithel (Freitag): Sie hat das Buch (meines) jetzt gelesen und kam zum Schluss, eine Rezension wäre doch besser als das „Gespräch“. Bin erleichtert. Hoffentlich kommt’s wirklich zu einer Rezension. Das Fax klingt sehr freundlich.

Alles Liebe.

A.


(1) Meine Frau kann kein Deutsch. Sie ist gebürtige Engländerin. Wie steht es mit Deinen Fremdsprachenkenntnissen?

(2) Da bin ich Dir ungerecht. Siehe Deinen Beitrag zu krisis 28 u.v.a.m.

(3) Wechselseitig: wodurch wird Theorie verständlich(er) gemacht veranschaulicht?

(4) Der Beweis der ökonomischen Unmöglichkeit bleibt weiter aus. In einer Überakkumulationskrise sollte doch keynesianische Umverteilung viel leichter sein. Ein Hindernis, das ihr entgegensteht, sind die „politischen Machtverhältnisse“, die globale Macht des überakkumulierten Geldes. Oder nicht?

(5) Man sieht es ihr aber nicht an.

(6) Beigelegt. Bin nicht sicher ob das in die Streifzüge passt. Müsstest Du, wenn Du nicht französisch liest, Wolfgang Kukulies fragen, ob es dafür steht, den Auszug zu übersetzen.

(7) Stark gekürzt ist das sicher interessant.

Veröffentlicht in Briefe