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02.06.2005: André Gorz an Franz Schandl

Vosnon, 2. Juni 2005

Lieber Franz,

Dein lieber Brief vom 18.5. hat mich erst am 30. erreicht. Er hat mich sehr gefreut. Seit mehreren Wochen habe ich selbst daran gedacht, Dir endlich wieder zu schreiben.

Ende Februar haben wir uns versöhnliche Briefe geschrieben, die sich beinahe kreuzten. Deiner, am 28.2. kam per Fax und riet mir den Brief ungeöffnet wegzuwerfen, den du mir ein paar Tage vorher geschickt hattest. Er war aber schon vor Deinem Fax am 28. angekommen und – wie Du sagst – hätte wie (auch mein) Schreiben Anfang Jänner besser nie geschrieben worden.“ Ich warf ihn tatsächlich nach Deinem Fax weg; war aber etwas verdutzt, ca. 2 Wochen später denselben „weggeworfenen“ Brief noch einmal mit einem kurzen P.S. Zu erhalten. Auch den warf ich weg. Was war passiert. Scheinbar eine Computer-Verirrung? Deine letzten Zeilen klären die Situation wieder.

Die Streifzüge 32 und 33 habe ich mit großem Interesse gelesen. Lohoffs Artikel in Nr. 32108 fand ich hervorragend in seiner Bezugnahme auf „stofflich-sinnlichen Reichtum“ und seinen Schlussbetrachtungen auf S. 20, die die Fragen des Übergangs (Transition) aufnehmen, die von den radikalsten Befürwortern der Geld- und Arbeitslosigkeit vernachlässigt werden. Ebenso fand ich in Nr. 33, im Artikel von Rätz109, S. 8, und im Artikel von Exner und Grohmann110, S. 37-38, Überlegungen, die mich freuen und denen ich beistimme.

Dieser Tage studiere ich wieder, was von und über Negri geschrieben wird. Es ist höchste Zeit, meine ich, sich mit dem Unfug zu befassen, den er und seine Anhänger erfolgreich betreiben. Ich meine vor allem ihr Lob der „Selbstverwertung“ und der „Selbstunternehmer“ und ihre verschwommene „Werttheorie“.(1) Ich habe keinen Text gefunden, der klärt, was unter „Selbstverwertung“ zu verstehen ist. Negris wichtigster französischer Vertreter verbreitet in letzter Zeit die Finanzierung eines universalen Sozialeinkommens durch die Besteuerung von Wissens- und Informationsaustausch (im Net), in welchem er die wichtigste Quelle von Wertschöpfung erkennen will!

Der wachsende Einfluss der Negristen macht sich auch im deutschsprachigen Raum bemerkbar. Die Zeitschrift „Grundrisse“ scheint ganz negristisch zu werden, auch Gottfried Oy (Frankfurter Rundschau) hat sich bekehrt. Cyborg Religion, Künstliches Leben und Intelligenz-Mystik führt dazu, dass Entsinnlichung gefeiert und jegliche Kritik der Technologieentwicklung, wie sie heute betrieben wird und des Konsummodells, der Marketingindustrie, als konservativ und nostalgisch denunziert wird. Der auch von Dir verehrte Günther Anders ist hier der zu vernichtende Feind. Es ist kein Zufall, dass ich mich auf ihn beziehe, resp. stütze, im 4. Teil meines Büchleins. Er hat Kaczynskis These der „totalitären Maschine“ vorausgeahnt.111

Eine gründliche Kritik des Negrismus kann nicht von einer einzigen Person unternommen werden. Sie bräuchte eine pluridisziplinäre Gruppe. Hier fehlt mir die umfassende Bildung, die man bei Robert Kurz finden konnte.

Als „Appetizer“ leg ich ein vor einigen Jahren erschienenes Gespräch mit Toni Negri bei.

Noch etwas. Peter Samols Artikel bringt überhaupt nichts Neues. Der letzte Absatz ist oberflächlich. Die Oekonuxer verstehen sich als Pioniere in der Auslotung des gesellschaftsverändernden Potenzials des „freien“. Ohne Bewusstseinsveränderung, ohne bewusstes Projekt läuft überhaupt nichts. Das hat Stefan Meretz (zum Unterschied von Stefan Merten, der mir pro-Negri scheint) immer wieder hervorgehoben, auch in Nr. 32. Was den stofflichen Reichtum betrifft, sollte Samol das letzte (oder erste) Buch von Fritjof Bergmann lesen, insbesondere die 70 Seiten von Kapitel IV (bis zum Abschnitt „Der Personal Fabricator“).112

Bergmann ist ein fürchterlicher Schwätzer, aber es gibt in dem Buch Dutzende von Ausführungen (gegen das Lohnarbeits- oder Erwerbssystem, das Kapitalverhältnis, die Konzerne, die Selbstverstümmlung und Selbstvermarktung der „Selbstunternehmer“ usw.) die ganz erfreulich sind. Seine Argumentation und Projekte sind gegen die Waren- und Geldbeziehungen gerichtet, er weiß es, Wert und Reichtum zu unterscheiden, aber er ist viel zu pragmatisch (praktisch) um eine Alternative zur Warengesellschaft zu befürworten, deren Ansätze und Keimformen er aber sorgfältig entwickelt.

Nachdem in Nr. 33 eine Anzeige für einen Vortrag und darauf folgendes Seminar von Bergmann in der Aula der Wirtschaftsuni erschien, scheinbar unter Mithilfe von Franz Nahrada organisiert, wollte ich meine Schwester als Kundschafterin dahin schicken und bei dieser Gelegenheit das Buch von Bergmann bekommen. Nun: Niemand an der Wirtschaftsuni hatte von der Veranstaltung gehört, sie fand nie statt. Das ist für Bergmann charakteristisch. Vor ca. 10 Jahren habe ich schon ähnliche Erfahrungen mit ihm gehabt. Er ist ein „busy body“.

Auf sein Buch aufmerksam gemacht wurde ich durch einen sehr interessanten Beitrag von Annette Schlemm in Berliner Debatte/Initial 1/2005. Wenn Du Zeit hast, schau ihn Dir an, und auch den hervorragenden Beitrag von Christoph Spehr.

Es wird mich freuen, wieder von Dir zu hören, Dich zu lesen und wünsche Dir, Euch, alles Gute

André


(1) Anselm Jappe hat sich mit der Kritik an Negri befasst, aber sie ist noch nicht gründlich genug und zu polemisch, um wirksam zu sein. Negri müsste ernsthaft diskutiert werden, und die Tatsache anerkannt werden, dass nicht alles, was er schreibt, falsch ist.


108 Vgl. Ernst Lohoff 2004b.

109 Vgl. Werner Rätz 2005.

110 Vgl. Andreas Exner und Stephanie Grohmann 2005.

111 Theodore Kaczynski (*1942), US-amerikanischer Mathematiker, bekannt geworden als sog. „Unabomber“, der zahlreiche Briefbomben-Attentate verübte. In einem „Manifest“ kritisierte er die technologische Entwicklung und mit dem „Leftismus“ jene Linke, die Technologie als Mittel zur planvollen gesellschaftlichen Gestaltung nutzen will.

112 Frithjof Bergmann (*1930), austro-amerikanischer Philosoph und Begründer der New-Work-Bewegung, vgl. 2004.

Veröffentlicht in Briefe