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09.06.2005: Franz Schandl an André Gorz

Wien, am 9. Juni 2005

Lieber André,

danke für Deinen ausführlichen Brief. Er hat mich ebenfalls sehr gefreut und vor allem beruhigt. Dass ich dem vorletzten Schreiben eine falsche Kopie beigelegt habe, tut mir leid. Es war tatsächlich eine Verwechslung, von der ich allerdings erst durch Dich erfahren habe. Eigentlich wollte ich das Fax vom 28.2. noch einmal senden, da ich mir unsicher gewesen bin ob es Dich erreicht hat. Aber lassen wir das.

Schön zu lesen wie sehr Dich die Sachen beschäftigen. Dass Ernst Lohoff sich Fragen des Übergangs stellt, halte ich auch für außerordentlich wichtig und dringend notwendig, auch wenn ich hier einige Einwände habe wie er es tut. Aber das ist zu diskutieren, und wir tun das auch. Deine Kritik an der reinen Pose der sogenannten „radikalsten Befürworter der Geld- und Arbeitslosigkeit“, kann ich nur teilen. Wie immer geht es trotz aller nötigen Abstraktion um konkrete Menschen in einem konkreten Leben. Und wenn hier keine Antworten gefunden werden, dann sind die theoretischen Bemühungen nicht mehr als eine Fleißaufgabe, die für die Wirklichkeit wenig oder nichts bedeutet. Die „Auslotung des gesellschaftsverändernden Potenzials“ ist notwendig genauso wie die „Bewusstseinsänderung“ und ein „bewusstes Projekt“. Da bin ich mir auch mit Stefan Meretz und Dir einig. Jetzt geht es darum darüber zu streiten, was das ist und wie das bewerkstelligbar ist. Da stehen wir – auch das zeigte der krisis-Crash – noch ziemlich am Anfang.

Den Tipp an Peter Samol bezüglich Bergmann gebe ich gerne weiter. Die Bergmann-Veranstaltung an der Wirtschaftsuni in Wien hat übrigens stattgefunden. Sie war aber nicht leicht zu finden wie ich Deiner Schwester bestätigen könnte. Ich bin selbst kurz dort gewesen und kann Deine Einschätzung bezüglich Bergmann nur unterstützen. Er gibt theoretisch nicht viel her, aber er verschafft interessanten Überlegungen Raum. Es ist glaube ich wichtig, dass es solche Leute gibt und dass man mit ihnen in Kontakt tritt. Franz Nahrada, auch in vielen Gassen zu Hause, wollte da die Wertkritik schon mit viel übleren Gestalten verheiraten. In den nächsten Streifzügen gibt’s zu dem ganzen Komplex auch ein Interview mit Nahrada.113 Soll ich übrigens nachschauen, ob ich Dir das Bergmann-Buch auftreiben kann?

Der Negrismus ist nicht mehr als eine Variante eines aufgeklärteren Traditionssozialismus. Ich habe ehrlich gestanden bisher nicht ganz die Anziehungskraft seiner Überlegungen nachvollziehen können. Für mich ist es weder inhaltlich aufregend noch formal anregend. Ich werde freilich in den nächsten Monaten zu der von Dir eingeforderten Auseinandersetzung kaum was beitragen können. Hier steht die unmittelbare Lebenserhaltung im Vordergrund, finanziell ist es zur Zeit leider recht eng, daher muss ich viele kleine journalistische Beiträge schreiben, um mich über Wasser zu halten. Und wenn ich meine spärlich Restzeit für Theorie einsetze, dann möchte ich an meinem TAUSCH weiterarbeiten oder an der KRITIK DER POLITIK etc. – Aber nicht einmal zu dem komme ich.

Aber es gibt ja noch andere, wenngleich Du schon recht hast, wenn Du gründliche Auseinandersetzungen als die von Anselm Jappe einforderst. Eine Zusammenarbeit mit Robert Kurz ist aber völlig unmöglich geworden. Seine Gruppe verfolgt die krisis mit Gerichtsprozessen (etwa über die Gültigkeit der letzten Mitgliederversammlung) und unerträglichen Papieren, in denen etwa auch die irrsten Sachen über mein Privatleben verbreitet werden (z.B. dass ich meine Kinder autoritär erziehe etc.) Kurz hat sich zur Aufgabe gemacht, seine Gegenspieler als Feinde zu betrachten, sie zu verfolgen und zu vernichten. Das ist zur Zeit sein größter Ansporn. Ich habe je nachdem als Sexist, Antisemit und Kinderfeind zu gelten. Man glaubt es kaum, aber man kann es lesen. Ich schick dir mal in gesonderte Post seinen letzten Text über uns zu. „Das kleine Arschloch“, so tatsächlich der Titel bringt seinen aktuellen Gemütszustand auf den Punkt und verdeutlicht auch eine Krise, nämlich seine.114 Aber betroffen davon sind auch andere, und insgesamt tut diese schräge Tragikposse der Wertkritik nicht gut. Das spürt man sogar in den Streifzügen, wo die Abos (nach einer längeren Aufschwungphase) rückläufig sind, ebenso die Spenden. Viele zeigen sich verunsichert über diesen Bruch. Finanziell ist wieder einmal die Dürre ausgebrochen. Außer der Zeitung können wir kaum was finanzieren.

In den nächsten Wochen erhältst Du übrigens die neue krisis 29, und auch die Streifzüge erscheinen Anfang Juli. Sie stehen dir natürlich offen, auch für kürzere Einwürfe. Am liebsten würde ich Dich freilich mal sehen, sodass man in Ruhe alles bereden kann, auch anderes, über Sartre, Dein Verhältnis zu Österreich, ob Du daran denkst, Deine vergriffenen Bücher wieder aufzulegen u.v.m.

Ich hoffe, es geht Dir und Deiner Frau gut und wünsche einen erholsamen Sommer.

Mit ganz herzlichen Grüßen aus Wien

(Franz)


113 Vgl. Franz Nahrada 2005a.

114 Vgl. Robert Kurz 2005a.

Veröffentlicht in Briefe