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02.08.2005: André Gorz an Franz Schandl

Vosnon, 2. August 2005

Lieber Franz,

Sei mir nicht böse: Deinen Brief vom 9.6. beantworte ich mit fast 2 Monaten Verspätung. Je älter man wird, umso langsamer. Die Uhrenzeit scheint sich zu beschleunigen, man rennt ihr erfolglos nach. „Es ist Zeit, dass es Zeit wird.“

Die widerwärtigen Seiten von Robert Kurz habe ich gelesen und gleich weggeworfen. Seine Beschimpfungen sind im Grunde Selbstverherrlichungen. Hast Du diesen Größenwahn schon in seinem frühen Stadien kommen sehen? Althusser ist mir da noch lieber: in seiner Autobiographie („Die Zukunft ist lang“)115 gibt er zu, ein Schwindler zu sein (sein doppelter Marx ist ja, im Unterschied zu Kurzens, eine Erfindung) und wundert sich darüber, dass die anderen auf seinen Schwindel hereinfallen. Immer hat er Angst gelebt als Betrüger bloßgestellt zu werden.

In Kurz‘ Kollaps… habe ich einen Zettel mit 3 Zitaten gefunden. Ich habe dieses Buch erst nah dem Erscheinen von „L’Immateriel“ gelesen und war darüber entzückt, dass ein Marxianer auch das Thema „Entsinnlichung“, Verwandtschaft von Wissenschaft und Kapital (das Gleiche fand ich etwas später bei Postone) behandelt hat: S. 185: Das Sinnlichkeitsgebot der Konsumtion wird stets a priori schon dementiert durch den Entsinnlichungszwang abstrakter Arbeit.“

S. 291: „…die Welt verkehrt herum, nämlich durch die warenförmige Abstraktion vom sinnlichen Inhalt….wahrnimmt“.

S. 294: „Der Gleichgültigkeit des Geldes gegen die Bedürfnisinhalte entspricht die theoretische Denkform der an beliebige Inhalte herangetragenen positivistischen Wissenschaftsmethode.“

Die Weise in der Ernst Lohoff den anti-ökonomischen Begriff des „wahren“, d.i. „sinnlich-stofflichen“ Reichtum ausarbeitet, gefällt mir folglich sehr.116 Ist er sich der Kluft bewusst, die sich in seinem Beitrag zu den Streifzügen Nr. 32 und 34 auftut? Er schreibt:

„Eine Emanzipationsbewegung kommt nicht umhin, diesem traurigen Umstand Rechnung zu tragen. In Sachen Reichtumsproduktion ist sie aufgerufen, gesellschaftlichen Reichtum vor der Kommodifizierung und Monetarisierung zu bewahren und kommodifizierten und monetarisierten Reichtum zu dekommodifizieren und zu demonetarisieren. Solange aber ein Großteil des gesellschaftlichen Reichtums indes Warengestalt annimmt, muss sich ihr Augenmerk natürlich auch darauf richten, wie mensch selbst im dekommodifizierten Zustand doch zum notwendigen allgemeinen Äquivalent, alias Geld, kommt. Das Offensivprojekt Dekommodifizierung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion ist ohne ein parallel geschaltetes Defensivunternehmen gar nicht zu denken, das die Geldversorgung der im kapitalistischen Sinne Überflüssigen sicherstellt und ihnen einen hinreichenden Zugang auch zum Warenreichtum ermöglicht. Nur in dem Maße, wie gesellschaftlicher Reichtum tatsächlich frei zugänglich wird, entkoppelt sich die Frage des Auskommens vom Einkommen und erübrigen sich alle monetären Verteilungskämpfe auf dieser Ebene. Dieses Defensivunternehmen knüpft, zumindest in den Metropolen, natürlich an den Sozialstaat an. Genauer gesagt, es kann nur Konturen annehmen, indem soziale Bewegungen sich gegen die derzeit auf Hochtouren laufenden Angriffe auf das traditionelle Zwangssozialversicherungswesen und ihr Ergebnis formieren.“ (Streifzüge 32, S. 20)

Soweit Lohoffs einleuchtendes Zitat. In Nr. 34 (zum Konzept des Grundeinkommens) ist davon nicht mehr die Rede.117 Oder behandelt er im zweiten Teil das Problem des Übergangs (Transition), dessen Wichtigkeit er in Nr. 32 hervorhebt? Ist er denn so sicher, dass es keine Form des Grundeinkommens in den nächsten Jahren geben wird – bzw. jetzt schon in mehr oder minder heimlicher Form (Niederlande, Dänemark, Frankreich) gibt?

Das Gespräch mit Franz Nahrada (Streifzüge 34, S. 18-22) hat mich begeistert. Da werden mehrere Fäden verknüpft. Da erscheint die Lösung des Problems des Übergangs in der Dynamik liegen zu können, mit der die HTP118 sich entwickelt und ausbreitet, hegemonial zu werden beanspruchten und die Warenbeziehungen überrundet.

Für Dein Angebot, mir ein Exemplar von Bergmann aufzutreiben, danke ich herzlich. Aber meine Schwester hat eines gefunden und mir geschickt. Bergmann ist auf theoretischem Gebiet ganz ungebildet, er hat von Marx und Sozialismus die Vorstellung eines US-amerikanischen Kleinhändlers, scheint mir stark katholisch geprägt, aber eben seine Ungebildetheit und Unkenntnisse befähigen ihn gegen das Lohnverhältnis der Verschwendungen und Verwüstungen und Erniedrigungen der Warengesellschaft wütig herzuziehen und praktische Ansätze einer radikalen Alternative zum Kapitalismus zu finden. Er wendet sich gegen einfache, aufrichtige Menschen, überzeugt sie, dass er sie versteht und sie ihn verstehen müssen. Die Ausführungen über die Armut der Begierde sind wunderbar. Aber 400 Seiten sind zu viel (für Intellektuelle wenigstens).

Also: wo hat der Vortrag/Seminar Bergmanns wirklich stattgefunden? Musste man vielleicht eingeladen sein, um ihn zu finden?

Es gäbe noch viel zu sagen zu mehreren Beiträgen in den Streifzügen, krisis 29 und Dead Men Working. Der Beitrag von Christian Höner119 erinnert mich an ein kurzes Fragment, das ich hoffentlich demnächst in leserliche Form bringen werde. Zum Thema „Wert, Tauschwert, Gebrauchswert, Eigenwert“. Diese „Tastatur“ von nicht ineinander verwandelbare, mit keinem Maßstab messbare „Wert“formen erlauben es heute, besser als früher, den Eindruck zu wecken, dass eine Ware „eigentlich“ eine Nicht-Ware, deren Eigen- oder Gebrauchswert seinen Warenwert übersteigt, dass sie mehr Wert ist als sie kostet oder als Ware, weniger als sie „eigentlich“ Wert ist, dass schließlich der Preis oder Tauschwert nichtssagend ist, da es sich ja um ganz andere Wertvorstellungen handelt. So könnte man Marketingtexte hin und her entschlüsseln.

Lieber Franz, Du fragst mich nach meinem Verhältnis zu Österreich: Ich habe keines. Zu meinem „roten“ Volksschullehrer, Franz Spiroch, habe ich noch eines, von Liebe und Dankbarkeit. Er war fantastisch. Nach ihm kamen „schwarze“, blöde Gymnasial-Professoren bei denen man überhaupt nichts lernte; sie waren wirr und langweilig. Dann war ich 10 Jahre in der Schweiz, absolutes Ausland.

Du fragst mich auch über eine eventuelle Neuauflage vergriffener Bücher. Ich weiß gar nicht, welche vergriffen und welche nicht vergriffen sind. Die deutschen Verleger sind stumm, sind Händler. Im Unterschied zu guten Verlegern verlegen sie Bücher, nicht Autoren. Für beinahe jedes Buch musste ich einen Verleger finden. Der allerschlechteste war Rowohlt, dann Suhrkamp. In seinem Katalog war „Der Verräter“ unter „Gewerkschaftspolitik“ oder so etwas zu finden. Den im Jahr 2000 bei Suhrkamp (auf Betreiben von Ulrich Beck) erschienen Band „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ musste ich ein zweites Mal übersetzen lassen und dazu selbst einen Übersetzer finden, denn die erste Übersetzung war unbrauchbar und der Redakteur hat 15 Monate behauptet, er sei dabei, die Übersetzung zu richten, sei bald damit fertig. Hat aber nie damit angefangen. Rotpunkt Zürich ist, von Rotbuch während der Tätigkeitsperiode von Otto Kallscheuer abgesehen, der bester „deutsche“ Verleger, den ich je hatte.

Ich wünsche Dir und den Deinen einen schönen August.

Alles Liebe

André

P.S.: Ich habe dem Kritischen Kreis 600 € überweisen lassen. Wenn es Dir recht ist, kannst Du davon 100 für die krisis abzweigen. Die haben keine Kontonummer fürs Ausland.


115 Louis Althusser (1918-1990), französischer Philosoph, vgl. 1993.

116 Vgl. Ernst Lohoff 2004b.

117 Vgl. Ernst Lohoff 2005.

118 HTP: Hochtechnologische Produktionsweise.

119 Vgl. Christian Höner 2005.

Veröffentlicht in Briefe