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19.09.2005: Franz Schandl an André Gorz

Wien, am 19. September 2005

Lieber André,

vielen Dank für Deinen langen und sinnreichen Brief vom 2. August. Und jetzt muss ich mich wohl entschuldigen, dass ich Dir so lange nicht geschrieben habe. Das Problem ist folgendes, je mehr man sich selbst vornimmt, desto eher zieht sich die Sache in die Länge. Gründe, gute wie schlechte, finden sich schnell.

Althusser und Kurz wollte ich nicht inhaltlich vergleichen, ich habe ehrlich gestanden nur meine Angst geäußert, dass Robert Kurz in eine Extremsituation etwas ähnliches passieren könnte wie Louis Althusser. Der hat doch in einem Anfall seine Frau erwürgt, wenn ich mich richtig erinnere. Der Vergleich war nur auf diese Ebene bezogen. Ansonsten habe ich von Althusser zu keiner Zeit so viel gehalten wie von Robert Kurz. Der „Kollaps der Modernisierung“ und andere Schriften sind groß und beeindruckend und werden es auch bleiben, da mag er jetzt noch so ungenießbar sein.

Danke auch für Deine umfassende Besprechung der Streifzüge. Die Debatte zum Grundeinkommen wird ja in der Zeitschrift fortgesetzt. Anfang Oktober findet zum Thema ein Kongress in Wien statt. Wenn du willst, schick ich dir sämtliche Unterlagen zu, derer ich habhaft werden kann. Was Ernst Lohoff betrifft, habe ich Deinen letzten Brief an mich an ihn weiter gereicht. Er hat versprochen, dir zu schreiben. Ich glaube, es ist besser und zielführender, er beantwortet die Fragen direkt, als dass ich hier den Ersatz mache.

Dein Artikel zu, Thema „Wert, Tauschwert, Gebrauchswert, Eigenwert“ interessiert mich sehr, wobei ich den Begriff „Gut“ wohl dem eines „Eigenwerts“ vorziehen würde. Aber vielleicht ist das auch nur eine falsche Mutmaßung. Ich hab dazu was geschrieben und leg dir eine Kopie bei, auch in der Hoffnung, dass ich es nicht schon getan habe. Wenn schon, dann entschuldige bitte. Lass uns deinen Text auf jeden Fall zukommen.

Das mit den Verlagen kann ich in jeder Hinsicht bestätigen. Wenn ich mir denke, wie oft ich knapp abgeblitzt bin. Je größer, desto übler, aber auch die kleinen haben mir bisher wenig Freude bereitet. Wirklich gute Verleger gibt es eigentlich kaum noch. Der Markt macht kaputt, und finanziell ist da alles meist sehr dubios. „Der Verräter“, „Abschied vom Proletariat“ und „Wege ins Paradies“121 sind übrigens vergriffen, wenn ich es richtig übersehe. Vielleicht sollten wir uns Gedanken machen, ob es nicht sinnvoll wäre, dieses oder jenes Buch wieder aufzulegen. Was meinst du? Die Rechte sind ja inzwischen wieder alle bei dir.

Irgendwann hast du mal angemerkt, dass es Dich krank machen würde, wenn du (wie ich) auf soviel unfertigen Projekten herumsitzen würdest. Nun, manchmal ärgert es mich, aber eigentlich denke ich, dass ich das, was ich zu sagen habe schon noch sagen werde. Natürlich drängt es mich zum Buch, aber ich bin sicher, ich werde es erwarten. Andererseits machen mir meine Kinder sehr viel Freude, auch wenn mir der Alltag manchmal zu viel Streiche spielt. Aber eigentlich bin ich zuversichtlich, trotz aller Schwierigkeiten, auch der lästigen finanziellen.

Am schönsten war dein langer Brief vom 28. Oktober – 1. November 2004 gewesen. Der war absolut nicht wirr (wie du befürchtet hast), sondern ausgesprochen liebevoll und fürsorgend, ja geradezu intim. Ich wollte da ausführlicher antworten, aber leider ist dann diese unselige WOZ-Rezension dazwischen geraten. Auf jeden Fall würde ich gerne mal in Vosnon (wo liegt das genau?) vorbeikommen, vielleicht im nächsten Frühling. Mein Englisch ist schon so gut, um auch mit deiner Frau kommunizieren zu können, allerdings nicht unbedingt auf gehobenem Niveau, das mir leider nur in Deutsch möglich ist. Da, lieber André, liegt auch eine meiner großen Schwächen, ich kann keine Sprachen. Als Bub vom Land (Heidenreichstein an der tschechischen Grenze im Waldviertel) war es schwierig genug, die Muttersprache zu lernen. Hier bin ich weniger zuversichtlich, dass mir noch was gelingt. Durch die Kinder bin ich ja örtlich gebunden, und so wird es mir wohl nie möglich sein Balzac oder Proust auf Französisch zu lesen oder Cervantes auf Spanisch. Schade.

In einem Punkt bin ich ganz bei dir, dort, wo du schreibst: „Die Weiterentwicklung von Kritischer Theorie muss irgendwie von faktischen Entwicklungen gespeist werden, sonst kommt sie nicht weiter und beißt sich in den Schwanz. Kurz: Wie entwickelt sich die Krise weiter? Wodurch wird Theorie verständlich(er) gemacht, veranschaulicht? Und was bleibt ohne sie unverständlich? Da bin ich doch wieder ein Journalist.“ – Ich auch. In die Alltäglichkeiten eindringen, Theorie nicht als hermetische Erleuchtung zu zelebrieren, das habe ich in den letzten Jahre immer für wichtig gehalten. Das Vermittlungsproblem ist ja nach wie vor ungelöst.

Du bist einer der wenigen, die sich immer wieder auf das Glatteis der Praxis getraut haben, ohne einzubrechen, unterzugehen und als Opportunist aufzutauchen. Die meisten jedoch endeten dabei als realpolitische Paulusse.

Wenige fallen mir da außer dir ein, Günther Anders – hat du ihn eigentlich je kennen gelernt – wäre da noch zu nennen.

Anders schreibt übrigens: „Wenn so viele Philosophen stolz auf ihrer esoterischen Sprache bestehen und jede ‚Popularisierung’ abweisen, so nicht etwa nur deshalb, weil ihr Gegenstand zu schwierig für die Sprache der Menschen ist; auch nicht nur deshalb, weil sie zumeist unbegabte Schriftsteller sind; sondern vor allem deshalb, weil sie zu bequem sind, um das Schwierigere zu leisten; und zu feige, um sich selbst in schwierige Situationen hineinzumanövrieren. ‚Das Schwierigere’: denn es gibt nichts, was schwieriger wäre, als einen schwierigen Gedanken, ohne ihm dadurch etwas an Gewicht zu nehmen, so leicht zu machen, dass er nun wirklich, das heißt: öffentlich, da-ist. (…) Verbannt werden immer nur lesbare Autoren.“ (Philosophische Stenogramme, S. 139-140)

Finanziell ist mein Spielraum nach wie vor ein enger, mit Forschungsprojekten auf der sogenannten geisteswissenschaftlichen Ebene schaut es hier ganz schlecht aus und auch einem Abonnenten, der sich mal als Mäzen versuchte, ist leider das Geld ausgegangen. Danke für Deine großzügige Spenden, auch im Namen der Redaktionen von krisis und Streifzüge.

Mit herzlichen Grüßen aus Wien

(Franz)

P.S.: Ich hab dir auch ein paar kleine journalistische Arbeiten beigelegt.


121 Vgl. André Gorz 1983.

Veröffentlicht in Briefe