Springe zum Inhalt →

22.12.2005: André Gorz an Franz Schandl

Vosnon, 22. Dezember 2005

Lieber Franz,

Es ist jetzt schon drei Monate her, da hast Du mir einen wirklich lieben Brief (mit Pandas auf dem Umschlag) geschrieben, der an meinen Brief vom 1.11.2004 anknüpfte. Das seither vergangene Jahr war (für meine Frau und mich) ein schlechtes. Unser alter Freund, der einen immensen Reichtum von Beziehungen in allen alt- und neulinken Kreisen pflegte und wie ein Katalysator auf sie wirkte, indem er auch neu auftauchende radikale Ideen in Umlauf setzte, nun der Freund ist gestorben und mit ihm auch meine Hoffnung für Projekte wie Deine eine Unterstützung zu finden.

Im Sommer schienen wir uns vom kranken Frühling zu erholen, gegen Ende September ging es dann meiner Frau – deren Wirbelsäule vor 39 Jahren eine schwere Verletzung erlitt – immer schlechter. Seit einem Monat liegt sie wieder. Wir wagen es nicht, uns zu fragen, was die Zukunft bringt, ob es überhaupt noch eine geben kann. Ich schreibe immer weniger, auch Briefe.

Habe mich aber endlich auch an Robert Kurz’ jüngste Veröffentlichungen herangemacht und meine, dass ich so einiges verpasst habe. „Der Weltordnungskrieg“ enthält insbesondere in seinem 2. Kapitel die geradezu geniale Begründung von Zusammenhängen, die den Tausenden von Soziologen, Nationalökonomen, Sozialpsychologen, Polizisten, Psychoanalytikern usw. usw. die sich mit dem „Aufstand der Vorstädte“ in Frankreich befassten, verborgen geblieben sind. Der von Kurz bei Hannah Arendt123 gefundene Begriff der „Weltverlorenheit“ und der „Selbstverlorenheit“, erlaubt es, vieles zu entschlüsseln und verständlich zu machen, er ist so ein „existenzialer“ Begriff, den es überhaupt nur im Deutschen geben kann.

Anschließend habe ich „Das Weltkapital“124 in Angriff genommen und finde dort die Klärung einiger Fragen, die ich nicht müde werde auch in meinen Briefen zu stellen. Der Mann (Kurz) ist fantastisch. Schade, dass er verrückt wurde. Worüber ist eigentlich die krisis-Gruppe auseinandergebrochen? Welche Kritik an welcher seiner Thesen konnte Kurz nicht ertragen?

Nebenbei frage ich mich auch, warum er sich statistische Daten in Wirtschaftszeitungen und bei Ramonet holen muss, wo sie nur fragmentarisch erscheinen, statt in den maßgebenden statistischen Quellen; warum er keine anderen Krisentheoretiker (etwa Robert Benton, Giovanni Arrighi, David Harvey usw.) zitiert und auch der Name Postone bei ihm nicht vorkommt. Wer – Postone oder Kurz – hat eigentlich mit der Wertkritik angefangen (in der Negri Ende der 70er-Jahre schon viel weiter gekommen war, als er heute ist)? Haben sich die beiden nicht seit langem gekannt? Wieso ist Postone hauptsächlich in Deutschland bekannt und Kurz nur ins Italienische und Portugiesische (Brasilien) übersetzt?

Die Rechte meiner in Deutschland vergriffenen Bücher, lieber Franz, gehören meinem französischen Verleger und Freund, die Rechte des „Verräters“ von dem eine von mir leicht gekürzte und etwas erweiterte Auflage (die Erweiterung besteht aus einem ca. 25seitigen Fragment: „Altern“ (Ageing). Über das Erwachsenwerden der Selbstentfremdung) in der Taschenbuchserie von Gallimard gerade erschienen ist, gehören Galilee und Gallimard. Wenn ein deutschsprachiger Verleger an einer Neuauflage des einen oder anderen Buches interessiert wäre, würden die Rechte sicher nicht teuer sein (ich könnte das arrangieren). Aber gibt es Interessenten?

Der Begriff des Eigenwerts (meine Übersetzung von „valeur intrinseque“) stammt von Gabriel Tarde. Er sagt z.B., dass ein Buch als materielle Ware wohl einen (Arbeits-) und (Tausch)wert hat, sein literarischer Inhalt wie übrigens Kunstwerke (das steht auch bei Marx) keinen Warenäquivalent haben, nicht teilbar, tauschbar usw. sind, sondern ihrer selbst willen etwas „wert sind“, das sich nicht in ökonomischen Kategorien messen lässt. Also: Nicht-Waren. Die können natürlich trotzdem vermarktet werden, wobei ihr Eigenwert zugunsten eines spekulativen Sammlerwerts entwertet bleibt. Ob alles Gute und alle Güter Eigenwerte sind, denen der Warencharakter nicht passen kann, ist für mich so generell nicht entscheidbar.

Ich habe bemerkt, dass Du in den letzten Streifzügen [Nr. 35] mir punkto Existenzgeld einen besonderen Raum einräumst.125 Das war sehr lieb von Dir. In „Wissen, Wert und Kapital“, dort, wo es am Ende des 3. Kapitels um Existenzgeld geht, wird es gar nicht mehr als universales Verteilungsmittel und Tauschmittel begriffen, sondern als Verteilungsmedium von Reichtümern, deren Herstellung nicht lokal und kooperativ als Gemeinwesenunternehmen möglich ist, also seinem Wesen nach rar bleibt. Ich habe schon früher bemerkt, dass für Dich wie auch für Stefan Meretz aller Mangel behebbar ist. Daran glaube ich nicht. Das würde voraussetzen, dass alles Nötige in ausreichenden Mengen erzeugbar ist. Nun, wo das nicht der Fall ist, ist Geld das falsche Verteilungsmedium: es würde allein den Tauschwert der Mangelgüter in die Höhe treiben. Das richtige Verteilungsmedium wären Gutscheine. Ich weiß nicht, ob Du die Rationalisierung alles Lebensnotwendigen in der (Nach)Kriegszeit erlebt hast. Dank ihr gab es endlich die Gleichheit – gleiche materielle Rechte – aller (insofern kein schwarzer Markt da war, und den gab es in England nicht).

Wie immer stellt sich für die Abschaffung der Geld- und Warenbeziehungen die Frage des Übergangs. „Wenn genug da ist für alle…“, schreibst Du. Aber wird genug da sein für alle, wenn die Warengesellschaft zusammenbricht? Wenn die Produzenten nicht mehr Waren ihres Geldwerts zuliebe erzeugen können, werden sie weiter Güter im heutigen Ausmaß erzeugen? Oder werden sie dafür sorgen, dass es nur noch Mangelwaren gibt, die einen überhöhten Tauschwert erreichen? Das hatten „wir“ bis in den 50er-Jahre in Frankreich und Deutschland.

„Was gilt es zu ermöglichen und zu garantieren?“, schreibst Du, „Das Leben oder das Kaufen?“ That’s the question. Die einen kaufen sich ihr Leben, die anderen verkaufen es um – paradoxerweise – nicht zu krepieren. Wie können wir die Überlegenheit einer Gemeinwohlökonomie praktisch beweisen? Bevor es zu spät ist?

Lieber Franz, ich wünsche Dir und den Deinen freudige Festtage und ein besseres neues Jahr.

Alles Liebe

André


123 Hannah Arendt (1906-1975), deutsch-amerikanische Politikwissenschaftlerin und Publizistin.

124 Vgl. Robert Kurz 2005b.

125 Vgl. Franz Schandl 2005.

Veröffentlicht in Briefe