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05.02.2006: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 5.2.2006

Lieber André,

mit großer Freude habe ich deinen Brief vom 24.11.2005 gelesen! Es war eine schöne Aufmunterung in einer für mich äußerst anstrengenden Zeit im Projekt, wobei im November glücklicherweise das „Release“ geschafft war und wir „nur“ noch mit Nacharbeiten beschäftigt waren – bei Gelegenheit und mit Abstand und Reflexion schreibe ich meine Erfahrungen einmal auf und schicke sie dir dann.

Vielen Dank für die Kopie des Artikels von Cubela aus „Express“.126 Die interessanten Beschreibungen untermauern das große analytische Rahmenwerk der Wertkritik, wenngleich sich Cubela und Andere diesen Schlüssen hartnäckig verweigern (würden) und eben auch an jenen „überschaubaren Einzelphänomen“ (Cubela) verhaftet bleiben – also genau das, was sie an den Sozialdemokraten kritisieren. Ich hatte kürzlich ein Erlebnis auf einem kleinen linken „Utopie-Kongress“, dessen Publikum sich aus zwei Gruppen zusammensetzte: Alt-68ern und jungen Linken.127 Beide, die 68er – zumeist Professoren – und die jungen Linken waren sehr „traditionalistisch“. Die Unterschiede bewegten nur entlang der alten Konfliktlinie, in welcher Weise die Macht im Staat erobert werden solle, per „Reform“ oder „Revolution“. Beide waren sehr offen und interessiert an der Freien Software, konnten aber meine Hinweise, dass sich ihre Staats- und Politikorientierung innerhalb der gleichen durch Arbeit und Wert konstituierten gesellschaftlichen Form bewegt, sie also daher auch nicht überschreiten kann, nicht aufnehmen. Genau darum müsste es jedoch auf einem Utopie-Kongress gehen: Welche Bestimmungen einer Neu-Konstitution, die eben die alte Form aufhebt, lassen sich angeben?

Diese Frage ist irgendwie „unannehmbar“, übrigens teilweise auch von der Wertkritik. Warum? Das ist die „Zumutung“, von der Uli W. und ich in dem Interview sprachen (das ich dir schickte). Sie ist anscheinend „zu persönlich“: Stelle ich die Form in Frage, dessen konstitutiver Teil ich bin, rückt mir das Problem geradezu physisch auf den Leib; personalisiere ich hingegen gesellschaftliche Zusammenhänge und delegiere die Verantwortung an Andere, bilde ich also ein „gut“ und „böse“, dann entlaste ich mich, da ich natürlich mit festem Willen zu den „Guten“ gehöre. Christen könnten das wohl mit dem Begriff „Schuld“ formulieren: Ich kann die Schuld nicht ertragen, also projiziere ich sie auf Andere. Das ist das strukturell antisemitische Grundmotiv, von dem auch Postone schrieb. Da wird mir schwindelig, wenn ich das weiter denke…

Von einer anderen für mich interessanten Debatte möchte ich dir berichten. Wenn du magst, kannst du sie kommentieren – es muss aber nicht sein. Grundlage ist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Uli W. (dem Uli aus dem „Interview“), in der es um die Konstitutionsbedingungen einer kommunistischen Gesellschaft geht sowie um die Frage nach den Keimformen in der heutigen Gesellschaft. Der Begriff der Keimformen ist sicherlich kein völlig neuer, aber in die linke Diskussion wieder eingeführt wurde er von Robert Kurz128 (inzwischen distanziert er sich davon, ich schrieb das bereits einmal). Im Oekonux-Diskurs wurde der Begriff aufgenommen und unter anderem mit Hilfe meiner Zuarbeit ausgebaut. Im beiliegenden Aufsatz „Freie Software und Freie Gesellschaft“ von Stefan Merten und mir, erschienen im „Open Source Handbuch 2005“, findest du den Abschnitt „Freie Software als Keimform“.129

{Am Rande bemerkt: Ich finde es sehr erfreulich, aber auch nicht ungewöhnlich, dass solche Ansätze wie der von Oekonux als Teil der Community akzeptiert werden, auch wenn die Mehrheit dazu wahrscheinlich eher keine Meinung hat. So etwas wie Oekonux wird als „philosophische Seite“ der Bewegung angesehen. Natürlich gibt es auch Positionen, die sagen, dass Oekonux der Community schadet, weil die Akzeptanz der Bewegung dadurch in der bürgerlichen Gesellschaft leide. Sie fordern also mehr Anpassung und Abgrenzung von den „Linken“. Wobei sich Oekonux selbst nicht als Teil der „Linken“ ansieht, sondern vor allem die Staats- und Widerstandsfixierung der Linken ablehnt. Wenn man so will, versteht sich Oekonux als konstruktives Projekt oder als konstitutives Projekt der Grundlagen einer Freien Gesellschaft – Kommunismus würden wir sagen. Daher perlt die „klassische“ antikommunistische Kritik an Oekonux eher ab nach dem Motto: „Von wem redest du?“ Das ist manchmal sehr lustig und interessant, weil es die alten „Linien“ aufbricht. Damit ist allerdings das alte „Gut-Böse“-Schema auch hinfällig, was – wie geschrieben – viele nicht ertragen können.}

Zurück zur Keimform und zu der Debatte mit Uli W. Grundsätzlich teilen wir den „Keimform-Ansatz“. Unsere Auseinandersetzung geht um die Frage nach den Kriterien, die eine Keimform bestimmbar machen. Nachfolgend ein Auszug einer E-Mail-Diskussion. Am Anfang schreibe ich zunächst etwas allgemeiner zur Keimform, weiter unten antworte ich absatzweise auf eine vorausgegangene E-Mail von Uli. Der Inhalt sollte sich für dich auch aus dem Zusammenhang gerissen erschließen lassen. Die kommentierten Absätze von Uli erkennst du an dem „>“ am Anfang der Zeile. Der Auszug:

(...)
Unsere Frage ist die nach dem Kriterien für eine Keimform. Was ist aber "Keimform"? In einigen Diskussionen wird Keimform zu einem Wort für irgendwie "Nichtkapitalistisches". Es scheint mir langsam den Platz für "Alternatives" schlechthin einzunehmen. Das raubt dem Begriff seine erkenntnistheoretische Potenz, macht aus ihm im innerlinken Blabla-Diskurs amorphen Brei. Ein herausragendes Negativ-Beispiel ist der jüngste Spendenbettelbrief von Robert Kurz für das Exit-Projekt, online unter http://www.exit-online.org/html/aktuelles.php - dann auf den Artikel "DIE UNFREIE ZIRKULATION DER IDEEN" klicken. Dort wird "Keimform" mit "kostenlos" zusammengeschmissen (und dann abgebügelt). Das ist ziemlich genau das Niveau von Computer-Bild, für die Freeware und free software das Gleiche ist, weil beides (angeblich) kostenlos ist. Da sind die aufklärten Bürgerliberalen der Free Software Foundation weiter, die erkennen, dass es keine Frage des Preises sei, sondern eine der Freiheit des Produkts (auf die Begrenzungen will ich hier nicht eingehen).
Für uns hingegen gilt es festzuhalten: Die Frage nach der Keimform ist die Frage nach den konstitutiven Grundlagen einer neuen Form der gesellschaftlichen Re-/Produktion oder kürzer: einer neuen Vergesellschaftungsform. die Knackfrage ist: Was _bestimmt_ diese neue Form? Ist das Bestimmende identifiziert, ist auch der Begriff bestimmt.
Für die nachfolgende Diskussion ist es wichtig, drei Bestimmungen des qualitativ unterschiedlichen Charakters menschlicher Beziehungen zur Kenntnis zu nehmen, die aus der Kritischen Psychologie stammen. Ich habe das hier ansatzweise beschrieben:  http://www.opentheory.org/dschungel/text.phtml?action=hideall 
Wie schwierig das Thema zu behandeln ist, zeigt die Diskussion: http://www.opentheory.org/dschungel/text.phtml (mit Kommentaren)
Ok, nochmal in anderen Worten:
*Interaktive, sinnlich-vitale Beziehungen* sind unvermittelte, nicht-kooperative, direkt _menschliche_ Beziehungen im Wortsinne (Liebesbeziehungen, Beziehungen zwischen Fürsorgern und Kindern), in gewissem Sinne unbedingte, unbegründbare und selbstzweckhafte Beziehungen: die sind halt einfach "da", was nicht heißt, dass sie immer da sein müssen. Interaktive, unkooperative Beziehungen sind mithin "ungesellschaftliche" Beziehungen, sie sind gleichwohl gesellschaftlich überformbar, unterliegen also Stilen, Moden, Praxen, Gedankenformen etc. Da genuin ungesellschaftlich, sind sie nicht verwertbar, gleichwohl ist ihre spezifische emphatische Qualität für die Verwertung nutzbar (siehe die Rolle von Liebe, Sex, Kindern etc. in der Werbung). Darauf heben die Postoperaisten wie Negri ab, wenn die von "affektiver Arbeit" sprechen, was nicht völlig falsch, aber unklar ist, weil hier inkompatible Ebenen vermischt werden. Interaktive Beziehungen enden mit der Trennung der Beteiligten.
*Unmittelbar-kooperative Beziehungen* sind unvermittelte, personale Kooperationsbeziehungen, die im Gegensatz zu interaktiven Beziehungen bedingt, begründet und zweckhaft sind. Die unmittelbar-personale Kooperation dient Erreichung von bestimmten Zielen, klassisches Beispiel ist das aufgabenteilige "Abwaschen". Personal-kooperative Beziehungen kommen ohne Vermittlung aus, alles kann (potenziell) zwischen den Beteiligten unmittelbar geregelt werden. Sie sind mithin nicht-gesellschaftlich und nicht-historisch. Unmittelbar-kooperative Beziehungen enden mit dem Fortgang der Beteiligten.
*Gesellschaftlich-kooperative Beziehungen* sind vermittelte überpersonale Beziehungen zum Zwecke der gesellschaftlichen Zielerreichung. Bedingungen, Gründe und Zwecke ergeben sich hier aus den gesellschaftlichen Zielkonstellationen, die unmittelbar-personal, also unmittelbar-kooperativ nicht veränderbar sind. Unter Bedingungen der Warengesellschaft sind die gesellschaftlichen Zielkonstellationen durch die Verwertungslogik determiniert - sie erscheinen als gleichsam natürliche Handlungsanforderungen. Die Gesellschaft als ermittlungsinstanz besteht unabhängig vom konkreten Einzelnen, sie wird durchschnittlich durch die Beiträge der Einzelnen reproduziert. Sie existiert mithin überindividuell und überhistorisch. Das Ende gesellschaftlich-kooperativer Beziehungen und das Ende der Menschheit sind identisch.
Schwierig an dieser Sichtweise ist der Begriff der "Vermittlung", was auch die o.g. Diskussion zeigt. In meiner Sicht ist eine Handlung nicht etwa dann "vermittelt", sobald ein "Mittel" verwendet wird - dann bekommt man analytisch gar nix mehr unterschieden, und dann bilden in der Tat auch die Ameisen Gesellschaften. Der Begriff der "Vermittlung" bezieht sich auf das überindividuelle Handlungsmedium, der Gesellschaft, mittels dessen ich durch Teilhabe mein Leben reproduziere.
Soweit das "Vorwort".
On Thursday 08 December 2005 21:29, Uli Weiss wrote:
> Stefan, Du siehst gegenwärtig nur in solchen Tätigkeiten bzw.
> sozialen Formen, in denen diese ausgeübt werden, Keimformcharakter,
> in denen allgemeines Wissen hervorgebracht bzw. in Programmen
> "vergegenständlicht" wird, das zugleich allgemein zugänglich ist.
Ich sehe nur in solchen Tätigkeiten bzw. sozialen Formen Keimformcharakter, die gesellschaftlich-kooperativen Charakter haben. Das Vergegenständlichen ist dabei nur insofern relevant, als dass die Vergegenständlichungen und die sozialen Formen, in denen sie erfolgen, den gesellschaftlichen Zielkonstellationen einer freien Gesellschaft entsprechen. Hier geht es also nicht irgendwie um "Kommunistisches" (das es zu allen Zeiten gab und gibt), sondern um das Kommunistische im Kern der gesellschaftlichen Re-/Produktion: Im Prinzip kann sich so die ganze Gesellschaft vorsorgend-kooperativ mit all ihren Teilaspekten und Infrastrukturen schaffen und erhalten.
> Die Herstellung freier Software, der in diesem Prozess durch die
> Akteure gebildete soziale Raum wäre eine solche. Du schließt dies
> dagegen in der gegebenen Gesellschaft aus für alle Tätigkeiten aus,
> die 1. in beschränkten sozialen Kooperationen entstehen (was ist
> hier unter beschränkt gemeint?)
Mit "beschränkt" sind hier die unmittelbar-kooperativen Beziehungen und Tätigkeiten gemeint: Sie sind auf die "personale Reichweite" beschränkt.
> und die 2. Produkte hervorbringen, 
> die zwar auch nicht wertförmig hergestellt werden, aber doch nur
> einigen und nicht allen Menschen zur Verfügung stehen (so etwa die
> Äpfel, die ich mit anderen aus Spaß an der Freude an entsprechender
> Hege und Pflege, also am eigenen Schöpfertum produziere und vor's
> Haus lege). Hab ich Deine Rede richtig erfasst?
Ja, da die Art und Weise des Herstellens von Äpfeln, wie sie von dir beschrieben wurde, nicht gesellschaftlich verallgemeinerbar ist (Abgeben des individuellen Überschusses). Dies deswegen nicht, weil die gesellschaftliche Vorsorge so nicht überdauernd sichergestellt werden kann, da die Äpfel vor der Tür mit der personalen Kooperation verschwinden würden, es also keine Entkopplung von Geben und Nehmen gibt (Entnahme nur, wenn die personale Kooperation noch besteht und es Äpfel somit gibt).
> Wenn ja, dann trifft dies zu für jedes Produkt zu, das nicht wie
> Wissen und Programme unbegrenzt vervielfältigbar ist.
Nein, es hängt nicht an der Form der Produkte, sondern an der sozialen, überindividuellen Form ihrer Herstellung. Würden Äpfel wie Software gesellschaftlich-kooperativ hergestellt, hängt es also nicht davon ab, ohne die konkrete personale Kooperation Äpfel produziert, dann wäre das Kriterium erfüllt, dann wäre die gesellschaftliche Vorsorge sichergestellt. Software hat nur historisch (heute) den Vorteil, dass sie nahezu aufwandslos kopiert werden kann und sich deswegen leichter heute schon wertfreie Inseln und Ansätze keimförmig etablieren lassen, in denen Geben und Nehmen entkoppelt ist.
> Alles, was notwendig stoffliche Form hat, das also mit begrenzten
> Ressourcen rechnen muss, fällt nach diesem Kriterium raus. Ich kann
> nicht die ganze Welt mit Äpfeln, Solaranlagen oder noch besser mit
> Kindern versorgen.
Doch, natürlich. Nicht du oder deine personale Kooperation als solche, aber als Teil der gesamtgesellschaftlichen Apfelkooperation, deren Ziel es ist, Äpfel für alle bereitzustellen. Das scheint mir nochmal wichtig: Kommunismus bedeutet nicht, dass die Menschen nur von den Überschüssen der persönlichen Entfaltung Anderer leben oder sowas, sondern Kommunismus ist das Zusammenfallen von individueller Entfaltung und gesamtgesellschaftlicher Vorsorge. Befriedigend ist also nicht die "Zuviel-Äpfel" abzugeben, sondern für den allgemeinen Nutzer als allgemeiner Produzent verallgemeinert-vorsorgend herzustellen.
> Das nichtwertförmige und nichtherrschaftsförmige Produzieren und
> das frei zur Verfügung Stellen der Produkte sind also noch nicht die
> hinreichenden Kriterien für die Keimförmigkeit.
Nein, sondern der Charakter der Re-/Produktion wie oben beschrieben.
> Auch die damit verbundene subjektive Seite scheint nach Deinen
> Kriterien nicht den Keimformcharakter zu begründen: Die Tätigen
> werden von keinem sonstigen äußeren Zwang getrieben werden, sondern
> folgen ihrem Bedürfnis nach freier Entwicklung ihrer Fähigkeiten
> Sie wollen sich gern in Produkten vergegenständlicht sehen und sich
> zusätzlich auch noch dadurch in ihrem Menschsein bestätigt finden,
> dass sie auf Bedürfnisse anderer Menschen treffen, die sich diese
> auf eine nichtwertfrömige Weise befriedigen können. Diese
> Tätigkeiten, auch wenn sie in nicht auf den Markt gerichteten
> Kooperationen mit anderen Menschen erfolgen, erfüllten, so habe ich
> Dich verstanden, erfüllen nicht das Kritierium der
> Verallgemeinerbarkeit. Wieso nicht?
Weil sie - kurz gesagt - nicht die personale Ebene überschreiten.
> Meinst Du das deshalb, weil
> 1. die so Tätigen in ihrer Existenz weiterhin an einen
> funktionierenden Kapitalismus gebunden sind bzw. weil
> 2. diesen Leuten auch in ihrer freien Tätigkeit noch auf bestimmte
> sachliche Voraussetzungen (Rohstoffe, Maschinen, Energie) angewiesen
> sind, die die kapitalistische Produktionsweise hervorbringt. Dass sie
> also ihre eigene Reproduktion und die zur Herstellung der freien
> Produkte notwendigen Mittel nicht auf wertfreie Art sichern können?
> Oder/und meinst Du
> 3. dass die Haltungen, Motive, die in diesen Tätigkeiten und
> Produkten zum Ausdruck kommen, dadurch begrenzt, also nicht
> verallgemeinerbar sind, dass in der gegebenen Gesellschaft nicht
> alle Menschen dementsprechend handeln können? Sie würden
> verhungern?
Grob gesagt: Weil unmittelbar-kooperative Tätigkeiten unter der gesamtgesellschaftlichen Form der Warenproduktion immer nur in dieser als Insel (die ich deswegen keinesfalls gering schätzen möchte), niemals aber diese Form überschreitend existieren können. Sie "reichen" sozusagen nicht an die gesellschaftliche Ebene heran und können deshalb ihre Prinzipien nicht ersetzen - das können nur keimförmig kommunistische Formen der gesamtgesellschaftlichen Kooperation. Unmittelbar-kooperative Beziehungen brauchen den Kommunismus, um ihre spezifischen Qualitäten entfalten zu können, schaffen ihn jedoch nicht. Dito gilt für die interaktiven Beziehungen.
> Wenn das die Kriterien wären, dann gäbe es entweder überhaupt keine
> Keimformen (auch die Linux-Gemeinschaftsproduktion wäre keine) oder
> es gäbe sie massenweise und zwar immer schon. So abstrakt bestimmt,
> hätte dann jede nicht wert- und herrschaftsfömige Tätigkeit, die
> außerhalb der Äquivalenzbeziehungen anderen Menschen Nützliches
> hervorbringt, Keimformcharakter.
Ich hoffe, ich konnte ein wenig zu Klärung beitragen.
> Ich glaube an dem Punkt muss Geschichte und entsprechende
> historisch-materialistische Denkweise zur Geltung kommen.
Jepp!
> Die unmittelbaren Reproduktionstätigkeiten der Menschen sind
> Bedingung jeder Gesellschaft, sie sind von den jeweiligen
> Gesellschaften in ihrem sozialen Charakter auch mit bestimmt – die
> Familie etwa des leibeigenen oder freien Bauern im Feudalismus hat
> einen anderen Charakter als die der Proletarier in der bürgerlichen
> Gesellschaft. Trotzdem folgen diese Tätigkeiten, die sozialen Räume,
> in denen sie sich vollziehen, die sie konstituieren, anderen Logiken
> als etwa die der vorherrschenden Produktionsweise, die der gesamten
> Gesellschaftsformation zugrunde liegen.
Ja, genau.
> Das Einbeziehen etwa aller zwischenmenschlichen Beziehungen
> Gesellschaft in den Verwertungsprozess, die Befriedigung aller
> menschlicher Bedürfnisse in der Warenform als zu bezahlende
> Dienstleistung ist zwar eine heutige Tendenz der Kapitalisierung der
> Gesellschaft. Dies vollständig durchgeführt wäre aber das Ende des
> Lebens, damit auch der kapitalistischen Gesellschaft.
Exakt.
> Auch wenn solche Reproduktionstätigkeiten Bedingung aller
> Gesellschaft sind und auch heute noch rein quantitativ den größeren
> Teil menschlicher Tätigkeiten ausmachen (im Verhältniss etwa zur
> Erwerbsarbeit), so waren sie doch nie gesellschaftsbestimmend. Bei
> aller relativen Autonomie waren sie dagegen immer von den fremden
> Zwängen bestimmt, heute etwa denen der Verwertung. Die halbe – oder
> eher die ganze? - Weltliteratur handelt von entsprechenden
> Konflikten, die oft die Auseinandersetzung zwischen Liebenden, Mann
> und Frau, Eltern und Kindern annahmen. Diesen menschlichen
> Bedürfnissen und entsprechenden Logiken Raum zu geben, war zwar eine
> existenzielle Bedingung aller Gesellschaften, geschichtsmächtig,
> formationsprägend konnten diese jedoch nie werden.
Genau:-)
> Setzen wir mal voraus, dass Menschen heute nicht mehr von fremden
> Zwecken, etwa dem stummen Zwang der Politischen Ökonomie angetrieben
> werden müssten, um auf hohem Niveau ihre Lebensmittel zu produzieren.
> Könnte es sein, dass dies auf der Basis der in der bürgerlichen
> Epoche gewachsenen Möglichkeiten, diese Logiken menschlicher
> Reproduktionstätigkeiten gesellschaftsbestimmend werden könnten?
Mit _Re_produktion zielst du auf die physische Reproduktion im Sinne von Nachkommenschaft ab. Ich verwende hingegen den Begriff allgemeiner im Sinne der Wieder/Herstellung der gesellschaftlichen Infrastruktur, die einschließt und voraussetzt, dass sich die Menschen als lebendige Wesen reproduzieren. Aber dies ist eben nicht hinreichend - du packst mir also zu schnell die Reproduktion auf die Seite der nicht-gesellschaftlichen Beziehungen (interaktiv und unmittelbar-kooperativ).
> Gewännen sie in diesem Sinne - auf diesem historischen Niveau -
> das, was sie zuvor nicht hatten: Keimformcharakter? Die historische
> Gleichzeitigkeit der russischen Dorfgemeinde mit einem
> hochentwickelten westlichem Kapitalismus (damit verbunden die
> angenommene proletarische Revolution) war für Marx die Bedingung
> dafür, dass eben diese Dorfgemeinde, sozusagen zu einer Keimzelle
> des Sozialismus werden könnte. Er hob ausdrücklich die Mentalitäten
> der Bauern hervor, die sie unter diesen spezifischen historischen
> Bedingungen zu einer sozialistischen Potenz werden könnten. Unter
> diesen konkreten Bedingungen könnten also nach Marx, die
> Gemeinschaftsfähigkeiten der Bauern verallgemeinerungsfähig sein
> und zwar in dem Sinne, dass sie zu einem wesentlichem Moment, zu
> einer Triebkraft der Konstitution einer sozialistischen
> Gesellschaft sein könnten. Wie gesagt, dies nicht an der Stelle
> von Konstitutionen, die sich etwa erst auf der Ebene des
> entwickelten Kapitalismus zeigen - heute der menschlichen
> Möglichkeiten, die mit der enormen Produktivität ihrer
> schöpferischen Tätigkeiten verbunden sind (siehe Linux) - sondern
> im Sinne einer sich befördernden, ergänzenden Parallelität.
So, hier ist der Satz, den ich zu Beginn unterstützte. Hier bist du mit dir argumentierend an der Stelle angekommen, die ich unterstütze, es vielleicht nur etwas drastischer formuliere: Die russische Dorfgemeinde konnte niemals den Sozialismus konstituieren, dennoch waren ihre Mentalitäten sozusagen der (von Marx angenommene) furchtbare Boden, auf den der anderswie konstituierte Sozialismus fiel (mal ausgeblendet, ob das stimmt...). Mit anderen Worten: Die "befördernden, ergänzenden Parallelitäten" haben selbst keinen Keimformcharakter, sie können keine neue Form der gesellschaftlichen Re-/Produktion konstituieren.
> Wenn das stimmt oder denkbar wäre, würden alle Menschen, insofern sie
> außerhalb und zunehmend im Widerspruch zum Verwertungs- und
> Herrschaftsstrukturen ihre eigenen Bedürfnisse auf solche Weise
> befriedigen, dass sie ohne auf Äquivalenzen zu setzen auch Anderen
> Nützliches, Gutes tun, der Potenz nach Kommunistisches betreiben.
Kommunismus befördernd und ergänzend, aber nicht konstituierend.
> Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Dies eben deshalb, weil es
> heute verallgemeinerbar wäre.
Nein, es wäre nur im Kommunismus verallgemeinerbar.
> Gerhard Gundermann würde vermutlich zustimmen.
Vermutlich.
> Stefan, was gibt es in deiner Logik dagegen einzuwenden?
Das konnte ich hoffentlich deutlich machen - ich rechne mit Widerspruch:-) ... und bitte um Geduld und Verständnis ob meiner langsamen Antwortfrequenz.

Soweit der Auszug. Der erwähnte Gerhard Gundermann ist ein Liedermacher aus der DDR, ich weiß nicht, ob du ihn kennst.130

In die Debatte schaltete sich ein weiterer Software-Entwickler aus dem Oekonux-Umfeld ein, der viel Sympathie für den Operaismus hegt. Er kritisierte die nach seiner Meinung in meinem Text angelegte patriarchale Trennung zwischen öffentlicher und nichtöffentlicher Sphäre, die geschlechtlich zugewiesen sei. Es gehe darum, diese Trennungen aufzuheben. Und da es in der Bewegung der Freien Software damit nicht gerade gut aussähe (überproportional männlich dominiert), müsse es eben Bewegungen geben, die sich von unterschiedlichen Seiten auf den Weg machen. Dem konnte ich in einer weiteren Antwort natürlich zustimmen, nur sei eben trotzdem die Frage, woher die konstitutive Kraft käme, eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zu schaffen, die auch die patriarchalen Spaltungen überwinde. Dazu noch ein kleiner Ausschnitt aus meiner Antwort (ein komplettes Zitat will ich dir wg. der Länge und der vielen kontextabhängigen Bezüge nicht zumuten; wenn zu Beginn von „Form“ die Rede ist, dann ist die „bürgerliche gesellschaftliche Form“ gemeint):

(...)
Die Form bestimmt die geschlechtliche Spaltung, die selbst zwar viel älter ist, aber eben nicht mehr als personale Herrschaft des Mannes über die Frau, sondern als Abspaltung der weiblich gesetzten Nicht-Wert- von der männlich gesetzten Wertsphäre auftritt. Die doppelte Schwierigkeit ist dabei, dass jede Herrschaft über Personen vollzogen wird, dass es sich aber trotzdem nicht um eine personale Herrschaft handelt, es also mithin gesellschaftlich nichts bringt, die Personen zu bekämpfen (die Männer, die Kapitalisten etc.); individuell allerdings sehr wohl - hier ist aber das Ziel ein anderes (nämlich individuelle Befreiung von personaler Unterdrückung). Ja, auch hier bringe ich die beiden Ebenen wieder ins Spiel, die man aus meiner Sicht analytisch unterscheiden muss: Auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Kooperation ist es witzlos, personal unmittelbar-kooperativ etwas verändern zu wollen. Andersherum ist es ebenso kurzsichtig, anzunehmen, die Struktur der gesamtgesellschaftlichen Kooperation alleine regelt das schon - darauf kommt es dir vermutlich an.
Ich denke, dass die Lösung nur sein kann, dass sich - mal ganz vereinfacht gesprochen - die Struktur der gesamtgesellschaftlichen Kooperation aus der Struktur der unmittelbaren Kooperation konstituiert, dass also die Trennungen, die du ansprichst, aufgehoben werden. Und das finde ich das Fazinierende an der Freien Software, da dort aus meiner Sicht genau das (keimförmig) passiert: Die globale Kooperation, die in der FS praktiziert wird, setzt keine universelle Planung, staatliche Rahmengebung oder dergleichen voraus, sondern ist in ihrem selbstorganisierenden Effekt der Marktwirtschaft ähnlich - nur, dass ihre Kooperation strukturell einschließend statt ausschließend
funktioniert. (...)

Die Debatte geht weiter, ich finde sie sehr produktiv. Wenn ich meine Position formuliere, dann hat das gewissermaßen experimentellen Charakter. Es geht mir eigentlich gar nicht darum, argumentative Geländegewinne zu erreichen, sondern eine andere Position als Herausforderung für meine aktuellen Überlegungen zu begreifen: Indem ich versuche, meine aktuelle Position weiter zu spezifizieren, weiter zu radikalisieren im Sinne des bis an die Wurzel der Argumente gehens. Dann ist das für mich ein Lernprozess, der genuin offen ist. Am Ende muss ich entweder aufgrund neuer Einsichten bisher geglaubte Überzeugungen verwerfen oder verändern, oder ich kann Überlegungen auf meiner bisherigen Grundlage in die Breite und Tiefe ausbauen.

Das ist eine sehr schöne Form des Theoretisierens, die gleichzeitig Praxis reflektiert und Praxis ist. Nur leider finde ich sehr selten solche Bedingungen vor. Das ist auch ein Grund, der mich so sehr für dich einnimmt, denn bei dir habe ich nicht das Gefühl des Positionen behaupten müssens, weil auch du dich in einem permanenten Lernprozess befindest und das zeigst. Das macht meinen ungeheuren Respekt aus, den ich vor deinem Lebenswerk empfinde.

Lieber André, mache dir bitte keine Sorgen um mögliche Erwartungen meinerseits. Ich erwarte nicht, dass du kurzfristig antwortest, oder dich tief mit meinen Überlegungen auseinander setzt. Ein Brief von dir ist immer eine große Freude, wann er auch kommen mag. Die Pflege deiner Frau hat Priorität, es tut mir leid, dass es ihr nicht gut geht. Und ich hoffe, dass es ihr mit deiner Hilfe schrittweise besser gehen wird.

Von ganzem Herzen allerbeste Wünsche für dich und deine Frau

(Stefan)

P.S. Die Fragen deines dänischen Freundes finde ich ganz hervorragend. Ihnen konsequent nachzugehen, ist eine Kunst, aber es ist der Weg der Befreiung. Wenn er sich für das Oekonux-Projekt interessieren könnte, dann kannst du ihm diese Internetadresse nennen: www.oekonux.org – das ist der englischsprachige Bereich des Projektes. Dort könnte er zum Beispiel auch seine Fragen stellen. Falls er gut deutsch spricht, gibt es natürlich auch den deutschsprachigen Teil des Projektes: www.oekonux.de.


126 Vgl. Slave Cubela 2005.

127 „Die Möglichkeiten einer anderen Welt. Kongreß zu konkreter Utopie und realpolitischer Intervention“, 7.-9.10.2005, Universität Hannover.

128 Vgl. Robert Kurz 1999.

129 Vgl. Stefan Merten und Stefan Meretz 2005.

130 Gerhard Gundermann (1955-1998), deutscher Liedermacher und Rockmusiker.

Veröffentlicht in Briefe