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25.02.2007: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 25.02.2007

Lieber André,

tausend Dank für Deinen Brief vom 9.1.2007, auch ich bin sehr glücklich, dass der Gesprächsfaden nicht abgerissen ist. Meine größte Sorge ist, dass es dir und deiner Frau gesundheitlich nicht gut geht. Die physisch-psychische Befindlichkeit ist unhintergehbar. Wenn ich dich wohlbehalten und in Gedanken mit mir verbunden weiß, bin ich froh. Solltest du darüber hinaus die Kraft und Muße finden, mir zu schreiben, dann ist das ein Geschenk.

Lieber André, gleich vorweg und weil es an die Fragen der Befindlichkeit anschließt: Kannst du dir vorstellen, dass ich dich für ein oder zwei Tage besuche? Heike, meine Lebensgefährtin, und ich planen eine Rundtour durch Frankreich im Camping-Mobil. Wir könnten die Tour so legen, dass ein Besuch bei dir möglich wäre. Besuch hieße wirklich nur Besuch, wir haben ja das Camping-Mobil, wo wir ggf. übernachten. Wir planen die Tour für Mai. Wenn es dir aber nicht gelegen kommt, du weiter Kraft sammeln musst oder andere Gründe, dann habe ich volles Verständnis für eine Absage.

Nun aber noch etwas Inhaltliches, wenn du magst.

Für mich sind wieder aufregende Dinge geschehen. Den Aufsatz, dessen Entwurf ich dir im Dezember schickte, habe ich komplett überarbeitet und in einigen Aussagen sehr deutlich verändert. Zwar halte ich die Überlegungen zur Knappheit und die Kritik an linken Positionen für zutreffend, aber ich habe mich in der Auseinandersetzung mit Ernst Lohoff überzeugt, dass „privatisierte Universalgüter“ (ein Begriff von Lohoff) im Marxschen Sinne keine Waren sind. Universalgüter sind nicht-stoffliche Güter, die für alle zugänglich (nicht exklusiv) sind, deren Gebrauch andere in der Nutzung nicht beeinträchtigt (nicht rival). Bekannte Beispiele sind Wissen, Software, Kultur. Bisher argumentierte ich, dass Güter, die für den Tausch produziert werden, Waren sind. Diese müssen knapp sein, und Knappheit wird bei Software sowie Wissens- und Kulturgütern technisch und rechtsförmig abgesichert. Das Konzept des „geistigen Eigentums“ liefert dazu die entsprechende Rechtfertigung.

Nun argumentiert Lohoff zu recht, dass einiges gegen den Warencharakter dieser unstofflichen Güter spricht. Ad 1: Zunächst werden sie nicht getauscht. Ein Tausch erfordert einen Händewechsel, dass heißt, was der eine hingibt und anschließend nicht mehr hat, bekommt ein anderer und besitzt dieses dann. Marx erläutert das anhand der einfachen Wertform und erklärt daran den Unterschied von Gebrauchswert und Tauschwert: Was der eine selbst überzählig hat, kann ihm nur im Tausch nutzen, in dem dann nicht der Gebrauchswert, sondern die vergegenständlichte abstrakte Arbeit mit der des einzutauschenden Gutes verglichen wird: x Ware A = y Ware B. Nach dem Tausch ist die Tauschbeziehung erloschen, weil das Gut die Hände gewechselt hat. Bei Universalgütern hat der Hergebende das Gut anschließend jedoch genauso in Händen wie zuvor, er könnte den „Tausch“ mit dem nächsten erneut vollziehen ad infinitum: Er hat nicht getauscht, sondern verteilt – aus einer Quelle, die nicht versiegt. Ursache für das Nichtversiegen der Quelle ist die – und das ist natürlich allgemein bekannt – nahezu aufwandslose Reproduzierbarkeit und Verteilbarkeit von Wissen, Software und Kultur. Universalgüter können nun trotzdem „verkauft“, genau genommen „mit einem Preis versehen verteilt“ werden. Bedingung ist, dass sie – wie ich es nenne – äußerlich verknappt, also äußerlich Warenform aufgesetzt bekommen. Hier trifft zu, was viele „künstliche Knappheit“ nennen. Eigentlich universelle Güter werden mit Hilfe technischer und rechtlicher Sanktionsdrohung in eine proprietäre (private) Form gebracht: Sie werden privatisierte Universalgüter, die verkauft werden können.

Ad 2: Schaut man sich nun die Seite der Arbeit an, die zu diesen Produkten führt, so kann man konstatieren, dass es sich um universelle Arbeit, um „allgemeine Arbeit“ handelt – wie Marx vorausgesagt hat. Dabei ist der Charakter der Arbeit unabhängig von der Konstellation, in der sie getan wird: Selbst wenn sie von einem Kapitalisten entlohnt wird, ändert sich der Charakter nicht, weil sowohl Tätigkeit wie auch Produkte gesamtgesellschaftlichen Charakter haben. Lohoff nennt die entlohnte allgemeine Arbeit „privatisierte allgemeine Arbeit“. Damit erscheint die berühmte Passage von Marx in den Grundrissen in einem neuen Licht: „Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein“, sobald also die allgemeine Arbeit und die „freie Entwicklung der Individualität“ die Grundlage der Reichtumsproduktion wird und dabei universelle Güter produziert, „bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen“ (Marx 1857/58, S. 593). Dies ist nicht nur in dem Sinne zu verstehen, dass sozusagen „neben“ der normalen Warenproduktion Sektoren entstehen können, die sich – da sie auf allgemeiner Arbeit basieren – nur noch jenseits der Waren zur Geltung bringen, sondern in dem Sinne, dass innerhalb der Warenproduktion Bereiche existieren, in denen paradoxerweise keine Waren mehr hergestellt werden. Die ökonomischen Konsequenzen sind tiefgreifend, denn „privatisierte allgemeine Arbeit“, die „privatisierte Universalgüter“ schafft, erzeugt keine Wertsubstanz. Werden privatisierte Universalgüter dennoch „verkauft“, dann findet – da kein Tausch vorliegt, sondern einseitige Gabe von Geld – ein unidirektionaler Werttransfer statt, Wert, der anderswo produziert worden sein muss. Andere und auch du haben eine solchen einseitigen Werttransfer als „Informationsrente“ oder „Monopolrente“ bezeichnet, und ich denke, der Begriff trifft den Sachverhalt. Die Warenproduktion zehrt sich also innerlich auf. Das ist eine ganz andere krisentheoretische Sichtweise, als die traditionelle Argumentation des „tendenziellen Falls der Profitrate“, der „organischen Zusammensetzung des Kapitals“ etc. Wichtig ist mir auch nicht so sehr der Blick auf die Krise, sondern die objektive Notwendigkeit, für diesen real schon veränderten Prozess der Reichtumsproduktion auch adäquate Formen zu finden – und die Freie Softwarebewegung und inzwischen auch ausgeweitet die Freie Wissens- und Kulturbewegung hat das getan.

Eigentlich haben wir das auch immer so ähnlich geahnt, aber nie so richtig auf den Punkt bringen können. Du wusstest und ahntest es auf jeden Fall: „Zum Unterschied von Kunst und künstlerischem Können ist Wissen wesensgemäß immer ein Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Zusammenarbeit und universalen Austausches und Verkehrs. Es gilt als Gemeingut der Menschheit und verlangt als solches allen zugänglich zu sein, um je nach Bedarf in besonderen Formen eingesetzt und weiterentwickelt zu werden. Seine Inhaber können es weg- und weitergeben, teilen und tauschen, ohne es dadurch zu verlieren oder zu schmälern. Ganz im Gegenteil, je mehr Menschen am Austausch und am Weitergeben von Wissen teilnehmen, umso größer wird das Wissen, zu dem jede und jeder Zugang haben kann.“ Und weiter: „Der Begriff des Wertes im ökonomischen Sinne als Tauschwert lässt sich nur auf Waren anwenden, das heißt auf Güter und für Dienstleistungen, die im Hinblick auf ihren Tausch produziert wurden. Was nicht durch [abstrakte] menschliche Arbeit produziert ist sowie a fortiori was nicht produzierbar oder nicht tauschbar oder nicht für den Tausch bestimmt ist, hat keinen ökonomischen Wert. Das gilt … ebenso für Allgemeingüter die, wie etwa überliefertes Kulturgut, weder geteilt noch gegen andere ausgetauscht werden können. … (Sie) können allerdings beschlagnahmt werden. Es genügt, ihre Zugangsmöglichkeiten zu privatisieren, um Zugangsrechte erheben zu können. Auf diese Weise werden Allgemeingüter in Scheinwaren verwandelt, die den Verkäufern der Zugangsrechte eine Rente verschaffen.“ (S. 33)

Da steht eigentlich alles bereits drin: Nichtstoffliche Allgemeingüter, die ich in Abhebung von stofflichen Allgemeingütern Universalgüter nenne, sind keine Waren, sondern nur Scheinwaren bzw. privatisierte Universalgüter. Diese werden nicht getauscht und haben keinen Wert. Sie werden dennoch verkauft, in dem der privatisierte Zugang zu ihnen gegen Geld ermöglicht wird. Der Verkauf der Zugangsrechte verschafft dem Verkäufer eine Rente. – Jetzt, im Lichte der oben beschriebenen Überlegungen gelesen, erkenne ich erst den Gehalt. Es mag sein, dass es dir mit deinem eigenen Text ebenso geht? Mir fällt natürlich auf, dass – weil die Verallgemeinerung noch nicht präsent war – du im Buch diesen Ansatz nicht ausbaust, sondern die „Unmessbarkeit des Wertes“ zum argumentativen Dreh- und Angelpunkt in Bezug auf die Werthaltigkeit von Wissensgütern machst. Damit, ich schrieb es dir in einem früheren Brief, hatte ich meine Probleme: Die Wertsubstanz hängt nicht von der Messbarkeit ab, war im Kern mein Einwand. Den anderen angelegten Argumentationsstrang habe ich allerdings gar nicht erst wahrgenommen, weil mein Blick dafür nicht geschärft war.

Jetzt, mit neuer theoretischer Genauigkeit, erhält deine Aussage auf einmal ein ganz neue Perspektive und neues Gewicht. Ich finde das sehr aufregend. Es ist kaum zu glauben, aber die Freien Bewegungen bekommen damit gleichsam eine Art „historischer Mission“, da sie nicht nur neben der Warenproduktion etwa Neues machen, das potentiell verallgemeinerbar sein könnte (so meine frühere Argumentation), sondern sie repräsentieren das Allgemeine, sie vollziehen den objektiven, dem Kapital selbst entspringenden Prozess. – Ich kann die Dimensionen der Konsequenzen dieser veränderten Sicht noch gar nicht übersehen. Es ist ja nicht so, dass alles völlig neu wäre, einzig das Ineinanderfügen der einzelnen Argumente in ein konsistentes Ganzes hat sich verändert. Plötzlich erscheinen dann jedoch bekannte Phänomene in einem neuen Licht. Nun ja, die Möglichkeit des Irrtums ist nie ausgeschlossen, aber Praxis wird uns sagen, ob wir richtig liegen.

Ich freue mich, dass du meinen Gedanken zur Knappheit aufgegriffen hast. Ja, es ist so wie du schreibst, dass der „Umgang mit der realen und potenziellen Begrenztheit … folglich die wichtigste gesellschaftlich-kulturelle-zivilisatorische Ausgabe“ ist. Nur hat der Kapitalismus seine zivilisatorischen Potenzen ausgeschöpft. Er ist nicht mehr in der Lage, mit dieser Menschheitsfrage nicht-destruktiv, nicht-ausgrenzend, nicht-repressiv umzugehen. Der Kampf um die Befreiung findet dort statt, wo die Dinge schon universal, also gesamtgesellschaftlich produziert werden, wo sie also als Dinge eigentlich schon „frei“ sind und nur in unfreier Form gehalten werden: patentfreie Medikamente, patentfreies Saatgut, freie Software, freies Wissen, freie Kultur – ein globaler Kampf um universelle Güter, um die Universalität der menschlicher Bedürfnisse und ihrer Befriedigung.

Allerherzlichste Wünsche sendet dir

(Stefan)

Veröffentlicht in Briefe