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30.06.2007: Stefan Meretz an André Gorz

Berlin, 30.06.2007

Lieber André,

vielen Dank für deinen Brief vom 21.3., der mich so rechtzeitig erreicht hat, dass wir unsere Reise nach Frankreich – nun ohne „Abstecher“ zu Dir – gut planen konnten. Ich hoffe, dass ihr, Dorine und Du, euren Plan umsetzen und einen Urlaub in der Schweiz genießen konntet und dass der Aufenthalt eurer Gesundheit förderlich war. Mir ist bewusst, dass es sicher viele Menschen gibt, die gerne Kontakt zu Dir hätten oder sich eine Stellungnahme zu dem einen oder anderen Thema wünschen. Ich fühle mich privilegiert, dass unsere Korrespondenz nun schon so lange andauert, und ich hoffe sehr, dass es für einen Besuch bei Dir „zu früh“ war, wie Du schreibst, oder noch zu früh ist und nicht zu spät. Was ich Dir anbieten kann, ist nach Frankreich zu fahren, sobald Du es Dir gesundheitlich und mit Blick auf deine Kräfte vorstellen kannst. Durch meine lange Auszeit bin ich in meinen Planungen ziemlich flexibel.

Du „begegnest“ mir immer wieder, denn Du hast Dir wirklich einen nachhaltigen Ruf erworben. Viele Texte verweisen auf Werke von Dir, und immer wieder fällt dein Name bei Veranstaltungen. So jüngst erst bei einer Tagung zum Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM, das Projekt von Wolfgang Fritz und Frigga Haug). Ich war dort dazu eingeladen, einen Beitrag zum Stichwort „Open Source“ zu liefern. Es war eine lebendige und kontroverse Diskussion. Wichtigstes Ergebnis war die Einsicht, dass sich um ein strategisches Thema handelt und nicht nur um das einer speziellen Bewegung. Im nächsten Jahr soll das Thema breiter angegangen werden, Vertreter/innen verschiedene Positionen sollen dann ihre Positionen darstellen, eine „Argument“-Ausgabe wird evtl. zu diesem Thema erstellt. Nun ja, teilweise habe ich mich bei der Tagung, bei der „Open Source“ nur ein winziger Workshop war, etwas deplaziert gefühlt – zu traditionalistisch ging es dort zu. – Wie waren (sind?) eigentlich deine Beziehungen zu den Haugs? Die beiden, obgleich auch schon hohen Alters, bilden so etwas wie den Fokus des verbliebenen Mainstream-Marxismus (Ost und West nun vereint). Die Anhängerschar in Deutschland ist mehr oder minder auf die sich neu formierende Linkspartei orientiert. Das ist auch nicht sehr verwunderlich, gilt es dort nun Stellen zu besetzen, etwa in der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dort, in der Stiftung, geht es streng „quotiert“ zu, das heißt, alle Strömungen wollen bedient werden. Da gilt es dann, sich rechtzeitig „richtig“ zu profilieren. In der letzten „Einstellungswelle“ sind auch ein paar gute Leute eingestellt worden, etwa Sabine Nuss155. Wenn Linke, die sich jahrelang von Projekt zu Projekt hangelten oder anderweitig in einer prekären Situation waren, sich nun auf solche Stellungen hin orientieren, verüble ich es ihnen nicht. Es kommt darauf an, ob sie in der Lage sind, sich eine gewisse theoretische Unabhängigkeit zu bewahren oder ob sie sich die Anforderungen der parlamentarischen Logik hineinziehen lassen. Mal sehen, wie sich ihre Positionen entwickeln.

Nun zum Thema der Informations- und Wissensarbeit resp. der Universalgüter. Die beiden Texte von Lohoff und mir, die in der nächsten Ausgabe der krisis (erscheint erst Mitte Juli) veröffentlicht werden, schicke ich Dir mit. Du hast das Szenario in deinem Brief sehr schön aufgemacht. Mit Bezug auf Wissens- und Informationsgüter (konventionelle Güter hier einmal ausgeblendet) sind folgende Tätigkeiten qualitativ zu unterscheiden:

  • Unmittelbare wertproduktive Arbeit: Das sind solche Tätigkeiten, die Wissens- und Informationsgüter erzeugen, die gleichsam Unikate darstellen, also besonders auf die Situation des jeweiligen betrieblichen Prozesses zugeschnitten und damit nicht per Kopie verallgemeinerbar sind. Sie sind gleichsam der nichtstoffliche „abgespaltene“ Anteil der Maschinerie und entsprächen einer Konstellation, in der informationelle algorithmische Anteil und stoffliches Aggregat noch gegenständlich in einer „analogen“ Maschine zusammengeschlossen sind (also die klassische Maschinerie des Fordismus).
  • Allgemeine wertunproduktive Arbeit: Das sind solche Tätigkeiten, die Wissens- und Informationsgüter erzeugen, die universell nutzbar sind, also unabhängig von spezifischen betrieblichen Prozessen allgemein verwendet werden können. Der „abgespaltene“ Anteil der Maschinerie, die algorithmische Logik, wurde universalisiert und bekommt damit gesamtgesellschaftlichen Charakter.

Als Resultate dieser Tätigkeiten treten auf:

  • Waren, sofern sie aus unmittelbarer wertproduktiver Arbeit hervorgehen – also die ganz „normale“ Situation. Dabei ist unerheblich, ob die Tätigkeiten stoffumsetzend („materiell“) oder nichtstoffumsetzend („immateriell“) sind.
  • Capital fixe, sofern es sich um privatisierte allgemeine Arbeit handelt, deren Ergebnisse nicht allgemein verfügbar sind und die betrieblich Kosten verursacht (Lohnkosten etc.). Dabei ist unerheblich, ob es sich um vergegenständlichtes Wissen (etwa in Softwareform) oder um flüssiges qualifikatorisches Wissen bei den Arbeitenden handelt.
  • Positive Externalitäten, sofern es sich um allgemeine Arbeit handelt, deren Ergebnisse auch tatsächlich allgemein verfügbar sind. Hier ist unerheblich, ob die allgemeine Arbeit entlohnt wird oder nicht.

Habe ich damit deine Überlegungen angemessen weitergedacht und ausformuliert?

Die Quellenlage bei Marx ist, was den Begriff „allgemeine Arbeit“ angeht, diffus. Nun habe ich nicht den kompletten Überblick, aber mir scheint, dass Marx schwankend (W. F. Haug sagt positiv: „flüssig“) mit dem Begriff umgeht. Die von Dir in den „Grundrissen“ genannte Stelle zur „allgemeinen Arbeit“ lese ich in Richtung „abstrakter Arbeit“. Marx schreibt gleich zu Beginn dieses Abschnitts: „Das Produkt ist Tauschwert, vergegenständlichte allgemeine Arbeit“. Im „Kapital“ wird das dann zu „gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit“ (MEW 23, S. 52). Die Frage, die sich Marx stellt, ist, wie Privatarbeiten gesellschaftlich sein können: „Der der Ware immanente Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muß, von besondrer konkreter Arbeit, die zugleich nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung der Sache und Versachlichung der Personen – dieser immanente Widerspruch erhält in den Gegensätzen der Warenmetamorphose seine entwickelten Bewegungsformen.“ (MEW 23, S. 128). Oder in den „Theorien über den Mehrwert“: „Die Schwierigkeit, die Ware – das besondre Produkt individueller Arbeit – in Geld, ihr Gegenteil, abstrakt allgemeine, gesellschaftliche Arbeit zu verwandeln, liegt darin…“ usw. (MEW 26, S. 510). Im 3. Band des „Kapital“ heißt es hingegen: „Allgemeine Arbeit ist alle wissenschaftliche Arbeit, alle Entdeckung, alle Erfindung. Sie ist bedingt teils durch Kooperation mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten Früherer. Gemeinschaftliche Arbeit unterstellt die unmittelbare Kooperation der Individuen.“ – Das liegt wieder ganz im Sinne der bekannten „Grundrisse“- Passage: „Insofern ferner die Maschinerie sich entwickelt mit der Akkumulation der gesellschaftlichen Wissenschaft, Produktivkraft überhaupt, ist es nicht in der Arbeit, sondern im Kapital, dass sich die allgemein gesellschaftliche Arbeit darstellt. Die Produktivkraft der Gesellschaft ist gemessen an dem capital fixe, existiert in ihm in gegenständlicher Form und umgekehrt entwickelt sich die Produktivkraft des Kapitals mit diesem allgemeinen Fortschritt, den das Kapital sich gratis aneignet.“ (GR, S. 586).

Du schreibst nun: „Alle allgemeine Arbeit erzeugt nicht Allgemeingüter“. Verstehst Du hier „allgemeine Arbeit“ im Sinne der zitierten zweiten Marxschen Lesart (i.w.S. „wissenschaftliche Arbeit“)? Darauf deutet Dein Verweis auf Fußnote 48 in WWK hin. Wenn ja, warum erzeugt dann nicht alle allgemeine Arbeit Allgemeingüter, oder genauer: Universalgüter?

Du hast mir dann die WWK-Seiten 61 bis 64 sowie 75 bis 77 zum Weiterdenken genannt. Hier entwickelst Du die Differenz von informalem (Wahrheits-, Eigen-, Erfahrungs-) und instrumentellem Wissen, was Du später in Kapitel IV ausbaust. Deine These ist: Der „Kapitalismus wertet und verwertet dasjenige Wissen, dessen instrumentelles Potenzial offensichtlich oder vorhersehbar ist“ (S. 62) – und das andere nicht? Weiter schreibst Du, dass „Wissen Reichtum und Quelle von Reichtum (ist), ohne selbst einen Tausch- oder Geldwert zu haben“ (S. 63). Der Kapitalismus verwertet einerseits Wissen, andererseits hat es selbst keinen Wert. Es ist also „für das Warenproduktionssystem unabdingbar …, (kann) aber nicht gemäß seiner Logik und seinen Methoden produziert werden“ (ebd.) Das entspricht ziemlich gut den meinen Überlegungen zu Universalgütern. Allerdings greifst Du die Differenz von informalem und instrumentellem Wissen an dieser Stelle gar nicht mehr auf, sondern schließt sie (auf S. 62 unten) sofort wieder. Erst später in Kapitel IV verfolgst Du den Gedanken weiter. Damit wird mir hier und aber auch später nicht so recht klar, in welcher Weise „Verwertung von Wertlosem“ stattfindet.

Aus meiner Sicht ist eine weitere Unterscheidung angebracht, nämlich die zwischen der Neuschöpfung von Wissen und der Anwendung von bekanntem Wissen. Es gibt damit drei Dimensionen: Das informale Wissen der lebendigen Menschen, das instrumentalisierbare und damit vergegenständlichbare Wissen und die Schöpfung von neuem Wissen, was wiederum nur durch lebendige Menschen geschehen kann. Wenn man noch mit einem einheitlichen Arbeitsbegriff operieren will, dann entsteht das informale Wissen durch „affektive Arbeit“ (Hardt/Negri), das vergegenständlichte Wissen durch „unmittelbare Arbeit“ (konkret/abstrakte Arbeit in ihrem Doppelcharakter) und das neue Wissen durch „allgemeine Arbeit“ im o.g. erweiterten Sinne. Das gilt jedoch in dieser Weise nur für konventionelle Güter. Wenn die „gegenständliche Form“ selbst unstofflich ist wie Software, das Gut also ein Universalgut ist und wie das wissenschaftliche Wissen nicht durch unmittelbare, sondern durch allgemeine Arbeit entsteht, dann wird nicht nur die Verwertungsbasis brüchig, sondern die Differenz von lebendigem und instrumentellem Wissen steht in Frage, da es das lebendige Wissen ist, was das instrumentelle Wissen erzeugt. Damit steht schon unter kapitalistischen Bedingungen „die Frage nach dem Verhältnis zwischen lebendigem und formalisiertem, zwischen bewusstem und subjektlosem Wissen“ (S. 88) auf der Agenda. Und praktisch wird diese Frage auch von der Freien Softwarebewegung behandelt, wenn etwa die Vergegenständlichung gesellschaftlicher Bedeutungen und Anforderungen in Softwareform nicht als ein in Produktion und Konsumtion aufgespaltener Prozess (wie bei proprietärer Software) gefasst wird, sondern von vornherein als offener, kooperativer, prosumtiver Prozess.

Nun ja, der von mir geforderte Übergang der Freien Softwarebewegung vom „an-sich“ zum „für-sich“ steht gleichwohl aus. Vielleicht ist das aber auch noch ein altes Denkschema, denn das Verrückte ist ja, dass die Freie Softwarebewegung vieles intuitiv „richtig“ macht ohne diesen Bewusstwerdungsschritt gegangen zu sein. Meine Frage ist also schon die, welches Verhältnis zwischen den Auseinandersetzungen, die quasi „automatisch“ in die richtige Richtung drängen, weil nur genau in dieser Richtung Entfaltung möglich ist, und jenen bewussten Schritten besteht, die eine bewusste Kritik zu überwindender Beschränkungen einschließt. Eine prominente Kritik (etwa von der genannten Sabine Nuss156) besteht darin, dass sie ein zu geringes eigentumskritisches Bewusstsein bei der Freien Softwarebewegung feststellt und ihr deshalb transzendierendes Potenzial abspricht. Darin scheint mir jedoch eine schematische, undialektische Vorstellung vom „erst-dann“ zu stecken: Erst Bewusstsein, dann der „richtige“ Schritt.

Du schreibst von der befreienden Wirkung, die der Kurz‘ Artikel „Antiökonomie und Antipolitik“ für dich hatte. Dieser Artikel hat für viele Menschen eine hohe Bedeutung, weil er die lange verschüttete Frage nach der „Keimform“ wieder (oder zum ersten Mal richtig) stellt. Das war auch mein initialer Artikel, mit dem mein Abschied vom traditionellen Arbeiterbewegungs-Marxismus begann. Ich erkannte mit diesem Artikel sofort die Potenzen der Freien Softwarebewegung, gerade weil ich den Vorschlag der „kybernetischen Subversion“ für nicht realistisch und eigentlich der Intention des Artikels widersprechend empfand. Robert Kurz hat sich inzwischen mehr oder minder von den zentralen Aussagen des Artikels distanziert, hat immer wieder gegen „Aufhebungsansätze“ polemisiert. Na gut, seine Rolle ist die der kritischen Abstoßung, zur Aufhebung will er nichts sagen, hier verharrt er im „Widerstandsmodus“, der darauf hinausläuft, alles „mit einem Schlag“ zu verändern. Darin sind sich dann Sabine Nuss und Robert Kurz einigt: Es fehlt das „richtige Bewusstsein“.

Lieber André, ich will schließen, damit der Brief endlich zur Post kommt. ich würde mich freuen, deine Beiträge lesen zu können. Wie ich hörte, erscheint in den nächsten „Streifzügen“ ein Aufsatz von Dir.157 Ich hoffe auch, dass das 3SAT-Projekt deines Freundes klappt. Mein eigenes Programm für die nächsten fünf Jahre nimmt langsam Gestalt an. Ich komme wohl doch nicht um „mein Thema“ der Informationstheorie herum. Ich habe das Gefühl, dass nur ich das machen kann, weil es sonst schlicht niemand tut. Ich berichte mehr, sobald es sich konkretisiert.

(Herzliche Grüße, Stefan)


155 Sabine Nuss (*1967), deutsche Journalistin und Politologin, Redaktion der Zeitschrift PROKLA.

156 Vgl. Sabine Nuss 2006.

157 Es handelt sich um den Nachdruck von „Seid realistisch – verlangt das Unmögliche“, vgl. Gorz 2007a.

Veröffentlicht in Briefe