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28.03.2005: André Gorz an Stefan Meretz

Zusatz zu meinem Brief vom 23.3.

28.3.

Lieber Stefan,

Eigentlich waren wir vorher schon etwas weiter gekommen als ich gegen Ende meines verwirrten letzten Briefs. Einerseits hast du auf die nicht subsumierbaren, „wert abgespaltenen“ Bereiche verwiesen, die u.a. alle selbstentfaltenden Aktivitäten, „die sich als Selbstzweck gelten“ (Marx) umfassen. Also die Produktion / den Erwerb lebendigen Wissens und lebendiger Fähigkeiten – welche auch dem subsumierbaren und subsumierten Fachwissen, dem verstümmelten und verstümmelnden Spezialistentum letztendlich zugrunde liegen.(1)

Die nicht subsumierbaren Aktivitäten, in denen sich die Menschen zu Menschen humanisieren und (re)produzieren, schöpfen „eigentlichen Reichtum“ der, ebensowenig wie die ihn schöpfenden Tätigkeiten, mit irgendeinem Maßstab gemessen und gegen irgend etwas anderes (aus)getauscht werden kann. Die Warenform kann ihm u.U. „aufgestülpt“ werden, wie du sagst. Doch damit verlieren die eigentlichen Reichtümer ihren Eigenwert, der darauf beruht, dass sie ursprünglich Selbstzwecke, also Nicht-Waren sind.

Wir haben es, glaube ich, mit zwei gegenläufigen Tendenzen zu tun. Um den Wertschwund zu umgehen, müssen die Firmen ihre Waren zu Eigenwerten, zu Kulturgut verbrämen, ihnen also den Anschein von Nicht-Waren geben. Umgekehrt bemühen sie sich, den wirklichen Nicht-Waren wie auch den scheinbaren die Warenförmigkeit aufzustülpen. Ihr Tauschwert/Preis hat aber in beiden Fällen mit ihrem Eigenwert nichts zu tun. Die zu scheinbarem Kulturgut verbrämten Waren tendieren aber, wie auch wirkliches Kulturgut, sich ihrer Warenform, ihres akzidentellen Tauschwerts zu entledigen und als allen zugängliches kulturelles Gemeingut zu gelten. Die unsichtbare zweite Ökonomie, die eine Nicht-Ökonomie ist, greift über (spills over) in die sich mit Eigenwerten verkleidende erste Ökonomie. Sie wird sichtbar, widersetzt sich ( – im Gesundheits-, Bildungs,- Erziehungswesen, auf dem Gebiet der Kunst- und der Wissensprodukte – ) der Wertlogik. Die Ökonomie untergräbt sich selbst, durch ihre Selbstverleugnung, indem sie absichtlich auf Werte jenseits des Tauschwerts hinweist und einen anderen Reichtumsbegriff legitimiert.

Jetzt, glaube ich, sollte mir die Gleichung aufgehen. Jenseits der Waren- und Gelderwerbsarbeitsgesellschaft müssen Wert und Tauschwert ihre Bedeutung verlieren und Eigenwerte eine zentrale Bedeutung gewinnen. Eigenwert zeichnet all das aus, was als Selbstzweck gilt. Ursprünglich, als ich anfing, an einem Papier für den Heinrich-Böll-Kongress „Gut zu wissen. Links zur Wissensgesellschaft“98 zu arbeiten, hatte ich gleich die Idee, dass eine Wissensgesellschaft nur als Kultur- oder Bildungsgesellschaft verstellbar sei (die Idee hatte bei Andreas Poltermann99 sofortigen Erfolg, ich bleibe ihm sehr dankbar). Kultur (oder Bildung) ist, wie Oskar Negt sagt, „das Reich der Selbstzwecke“, das nur Eigenwerte kennt. Der Kreis schließt sich. Glaubst du, dass diese „Gedankenspiele“ uns weiterbringen können? Für deine Kritik wäre ich dir dankbar.

Lieber Stefan, deine und Ulrich Weiß‘ geplante Vorstellungen meines Büchleins würden mich natürlich sehr interessieren. Wird es davon ein Script oder eine Cassette geben?

Alles Liebe.

André.


(1) Was die nicht-reelle Subsumierbarkeit der spezifisch menschlichen Fähigkeiten betrifft, bin ich nicht ganz optimistisch. In seiner gegenwärtigen Phase trachtet der Kapitalismus, den ganzen Menschen zu subsumieren und die Verökonomisierung der Bildung, Ausbildung, Erziehung, der Schule und Universitäten – überall soll hauptsächlich unmittelbar rentables Wissen gelehrt werden, die Lehrkräfte nach dem Leistungsprinzip beurteilt werden – erzeugt z.B. in England viel weniger Widerstand, als man erwarten könnte. Ausbildung vs. Bildung, Schulung vs. Erziehung, das ist die Tendenz. Vgl. auch Arlie Hochschild, Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird etc., Opladen, 2002, und Moldaschl, Subjektivierung von Arbeit.


98 Vgl. André Gorz 2001.

99 Andreas Poltermann (*1951), deutscher Germanist, Historiker, Philosoph und Politikwissenschaftler, tätig bei der Heinrich-Böll-Stiftung.

Veröffentlicht in Briefe