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18.08.2003: Stefan Meretz an André Gorz

Stefan Meretz
Pertisauer Weg 22
D-12209 Berlin

Berlin, 18.8.2003

Lieber André Gorz,

Thomas Schaffroth gab mir Ihre Adresse, und so erlaube ich mir, Sie direkt in einem Brief anzusprechen. Ich bleibe dabei beim respektvollen „Sie“, obwohl mir inhaltlich eher nach einem „Du“ zu Mute ist. Die inhaltliche Verbundenheit empfand ich sehr stark beim Lesen des WoZ-Interviews, das Thomas Schaffroth mit Ihnen führte – jetzt auch erschienen in der taz.1

Zunächst vielleicht ein kleiner Einschub zu meiner Person: Jahrgang 1962, Ingenieur und Informatiker, Lohnarbeit bei der Gewerkschaft ver.di in Berlin, Entwickler von Freier Software2 und aktiv im Projekt „Oekonux“, kritischer Freund der „Wertkritik“ der Gruppe „Krisis“.3

Das Projekt „Oekonux“ – von „Oekonomie“ und „Linux“ – reflektiert die gesellschaftstheoretischen Implikationen der Bewegung Freier Software und fragt nach den Möglichkeiten der gesamtgesellschaftlichen Verallgemeinerbarkeit. Im Projekt wurde die umstrittene „Keimform-These“ formuliert, nach der die Freie Software eine Keimform einer freien Gesellschaft darstellt, deren Wesensmerkmale die Freie Software bereits heute schon zu großen Teilen verkörpert:

  • Globale Vernetzung
  • Individuelle Selbstentfaltung
  • Kollektive Selbstorganisation
  • Wertfreiheit: kein Tausch, kein Markt, kein Geld

Selbstverständlich wird die Gegenbewegung aufmerksam beobachtet. Sie besteht in dem Versuch des Kapitals, die Freie Software der Verwertungslogik wieder unterzuordnen. Da auch Entwickler Freier Software sich über Lohnarbeit reproduzieren müssen, sind hier die Übergänge fließend. Das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Logiken Freier Software und proprietärer Software4 drückt sich aus in der These, dass nicht „Kapital“ und „Arbeit“ den unvereinbaren Gegensatz im Kapitalismus darstellen, sondern „Selbstentfaltung“ und „Selbstverwertung“. Das postmoderne Management versucht den individuellen Antrieb zur Entfaltung der menschlichen Potenzen in die Bahnen der Verwertungslogik zu bringen und zersetzt damit genau diesen Antrieb. Die Widersprüche sind also nicht einfach „soziologisch“ verteilt, sondern gehen zunehmend durch die Menschen hindurch. Ein Betriebsrat von IBM drückte die neue Managementstrategie so aus: „Tut was ihr wollt, aber ihr müsst profitabel sein“.

In dieser Diskussion im Oekonux-Projekt stieß Ihr WoZ-Interview auf große Begeisterung: „Das klingt extrem nach Oekonux – inklusive dem Begriff Selbstentfaltung“, war eine Äußerung. Der Begriff der Selbstentfaltung spielt eine große Rolle im Projekt. „Selbstentfaltung“ wird dabei nicht bloß individualistisch als Selbstbehauptung auf Kosten Anderer angesehen, sondern für die Selbstentfaltung in der Freien Software gilt: „Die Entfaltung der Anderen ist die Voraussetzung für meine Selbstentfaltung – und umgekehrt“. Das ist das kommunistische Prinzip. Es ist kein Ideal einer fernen Zukunft, sondern gelebte Praxis in einem Sonderraum der gesellschaftlichen Produktion.

In einem kurzen Brief kann ich die ganze Problematik nicht vollständig umreißen. Die realen Widersprüche sind komplizierter als meine vereinfachende Darstellung suggeriert. Der Zweck meines Briefes ist der Versuch einer Überredung: Ich möchte Sie herzlich zur 3. Oekonux-Konferenz in Wien vom 20. bis 23. Mai 2004 einladen! Ich würde mich sehr freuen, wenn es Ihnen möglich wäre, das Angebot anzunehmen. Im Frühjahr 2004 sollte Ihr Buch „L’Immatériel“5 auf deutsch erschienen sein. Eine Vorstellung des Buches oder ein Beitrag zum Thema wäre hervorragend!

Sollte Ihnen eine Teilnahme nicht möglich sein, würde ich mich über einen gelegentlichen Briefaustausch freuen. Es gibt theoretische Fragen, die mich beschäftigen, und die ich mir derzeit nicht schlüssig beantworten kann. Davon zeugen auch die Diskussionen in der Wiener Zeitschrift „Streifzüge“, die ich mit Freunden der Krisis-Gruppe habe (die Ihnen Thomas Schaffroth geschickt hat).

Auf eine Antwort freut sich

mit herzlichen Grüßen verbleibend

(Stefan Meretz)


1 Interview mit der Schweizer WoZ, „Die Wochenzeitung“, vom 26.6.2003, nachgedruckt in der Berliner taz, „die tageszeitung“, vom 16.8.2003.

2 Freie Software erlaubt das Studium und die Veränderung des mitgelieferten Programm-Quelltextes sowie die Weiterverbreitung des originalen oder veränderten Programms.

3 Das Projekt Oekonux online: www.oekonux.de. Die Wertkritik kritisiert den Kapitalismus als Vermittlungszusammenhang, der sich über die basalen Kategorien Ware, Wert und und Geld blind herstellt (Fetischismus), und vertritt damit den Anspruch die „Mehrwertkritik“ des traditionellen Marxismus als bloß auf die Verteilung des in der Wertform geschaffenen Reichtums abzielend zu überschreiten. Die Gruppe Krisis online: www.krisis.org.

4 Proprietäre oder unfreie Software erlaubt keine Veränderung und wird in der Regel ohne Programm-Quelltext verbreitet. Freeware ist proprietäre Software, deren Verbreitung als binärer Computercode erlaubt ist.

5 Vgl. André Gorz 2003.

Veröffentlicht in Briefe