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05.10.2006: André Gorz an Stefan Meretz

5.10.2006

Lieber Stefan,

Mehr als fünf Monate sind jetzt seit deinem letzten Brief (vom 2.6.) vergangen. Ich erhielt ihn zu einer Zeit, als es meiner Frau und mir miserabel schlecht ging. Die Zeit dauerte 8 Monate. Über deinen Brief freute ich mich so sehr, dass ich ihn meiner Frau übersetzte und wir ihn zwei Stunden lang (beim Tee) diskutierten. Für eine Antwort reichten meine Kräfte nicht. Jetzt geht es schon viel besser.

Die meisten deiner Erörterungen und Überlegungen gingen ganz in die gleiche Richtung wie meine, nur führst du sie klarer, strenger und ausführlicher aus, als ich es könnte. Das gilt übrigens auch für den „einführenden Vortrag“, S. 9-11, von Ulrich Weiß, den du mir, u.a., am 17.4.05 geschickt hast und der glänzend herausarbeitet, wie (auch meiner Meinung nach) obsolet das Problem „Reform/Revolution“ ist und wie grundverschieden die Frage einer Überwindung des Kapitalismus heute angegangen werden müsste.

Mit dem Zitat von Lothar Kühne139 (Anm. 34) deutet er darauf hin, dass „die Tendenz schöpferischer menschlicher Leistungen sich zu verständigen“ nicht bedeutungslos ist (sie weist auf ein Jenseits der Waren/Wertproduktion hin) aber keinen Weg zu ihr offenlegt, wenn sie, wie du es formulierst, wenn sie nicht „den strukturellen Logiken der Warengesellschaft einen im Kern anderen Mechanismus entgegensetzen kann“. Diesen „anderen Mechanismus“ (andere Vergesellschaftungsform) hat die FS gefunden; und die Frage ist, wie er gesamtgesellschaftliche Relevanz gewinnen kann, und zwar nicht allein durch seine Ausdehnung, sondern dadurch, dass es die Menschen dazu motiviert, in ihm die Möglichkeit ihrer Befreiung, ihres Fullfilment, einer Lösung der für die Oekonomie unlösbaren Aufgaben zu sehen.

In deinem Gespräch mit Uli Weiß hast du das so (viel besser) gesagt: „Theorie ist ohnmächtig, solange es nicht Praxen gibt, in denen wenigstens in Ansätzen erahnbar wird, dass seelisch wie materiell die menschliche Existenz auf andere Weise als über Verwertung gesichert werden kann.“ Umgekehrt sind wir uns darüber einig, dass Praxen „ohnmächtig“ sind, gesellschaftsverändernd zu wirken, solange es an der theoretischen Einsicht dazu fehlt, was fundamental und radikal zu ändern ist. Nicht nur „Bewusstsein“, kultureller und existenzieller Anspruch muss da sein (den findet man z.T. in der Religion), auch theoretisches Verständnis.

In deinem mit St. Merten verfassten Beitrag zum Open Source Jahrbuch 2005, siehst du (seht ihr), S. 308 Absatz 3 und folgende, in den Fabbern einen technischen Durchbruch, der die Forderung eines fundamentalen Wechsels enthält und erkennbar machen könnte.

Fortsetzung folgt.


139 Lothar Kühne (1931-1985), marxistischer Kulturphilosoph und Architekturtheoretiker.

Veröffentlicht in Briefe